Das Buch gliedert sich in mehrere Bereiche, die geschickt miteinander verbunden werden. Der Transsexuelle Weg- Wie läuft die Geschlechtsangleichung von Frau zu Mann ab-, zieht sich wie ein roter Faden durch den ersten transromantischen Roman, der in Deutschland auf den Markt kommt. Eingebettet in die romantische Liebesgeschichte zwischen einem homosexuellen Assistenzarzt der Urologie, der SM-Spiele liebt, und einer Frau zu Mann transsexuellen Gymnasiallehrerin, die, während ihrer Unterrichtstätigkeit, den Weg in die Angleichung zum Mann geht, wird der Leser von einer faszinierenden Lebensgeschichte mitgerissen und in Welten entführt, die nur wenigen Menschen zugänglich sind. Die Protagonisten leben ihre sexuellen Gelüste im SM- Studio und auf dem Männerstrich aus. Sie tun es aber nicht auf Kosten anderer, sondern bleiben stets sich selbst und ihrem Beruf treu. Für Christian bedeutet das Ausleben seiner Stricherphantasien nicht nur die sexuelle Befriedigung seiner homosexuellen Neigungen, sondern auch einen großen Schritt in die Selbstfindung, der fast in einer Tragödie endet. Sicher, dem schrecklichen Erlebnis entkommen, fährt er gestärkt zur großen OP. In Berlin findet das in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft lebende Paar ein neues Zuhause und ihre besondere Berufung: Sie wollen Strichjungen eine Chance bieten, mittels Berufsausbildung den Ausstieg aus der Prostitution zu finden. Chris gelingt es mit Zustimmung der Polizei undercover in einem Kinderschänderring zu ermitteln und die Verbrecher ihrer gerechten Strafe zuzuführen, mit lebensverändernden Folgen für ihn selbst. Im besonderen Zeugenschutzprogramm lernt er die Jugendstrafanstalt Plötzensee kennen und will nicht mehr an ein normales Gymnasium zurück. Die jungen Gefangenen, die dort ohne Zukunft und Perspektive einsitzen, bedürfen nun seiner ganzen Unterstützung. Erfahrung als Pflegeeltern sammelt das Ehepaar mit dem früheren Strichjungen Daniel, der dem Kinderschänderring dank Christian entkommen kann. Aber der Wunsch nach einem eigenen Kind, das Lukas und Christians Gene in sich trägt, wird groß, denn auch in einer Ehe zwischen zwei gleichgeschlechtlichen Partnern können Kinder gedeihen. Wieder treffen beide auf ungelöste rechtliche Fragen. Zu Beginn ging es darum, ob Chris als Lehrer während der Geschlechtsangleichung weiter unterrichten durfte. Nun stellt sich das Problem der Leihmutterschaft, die in Deutschland nicht erlaubt ist und damit Chris jegliche Möglichkeit auf ein eigenes genetisches Kind, nimmt. Dieses Schicksal trennt ihn von den transsexuellen Frauen, die mit ihrem Samen ihre biologische Frau befruchten lassen können. Frau zu Mann Transsexuelle aber können nur vor der Angleichung noch als Frau "Mutter" werden, oder sie müssen das Risiko einer Schwangerschaft unter dem Einfluss von männlichen Hormonen eingehen, mit möglichen gesundheitlichen Folgen für ihr Kind. Eine Ungerechtigkeit? Oder politisch gewollt? Der Roman berührt alles: Lachen, Weinen, ernste Auseinandersetzungen, Wissen und Information. Und vor allem: Gute Unterhaltung.

 

Leseprobe

Manuel Magiera

Zwei Leben und ein kleiner Unterschied

Die dreißigjährige Christiane Rieger arbeitet an einem Gymnasium in Nordfriesland. Durch ihre Psychologin erfährt die Mathematik- und Physiklehrerin, dass sie Frau zu Mann Transsexuell ist. Sie entschließt sich zur Geschlechtsangleichung: Christiane entwickelt sich zu Christian. Wie die meisten transsexuell geprägten Menschen, hat Christian beruflich als auch privat auf dem Weg zum Mann enorme Schwierigkeiten zu überwinden. Dazu gehört auch Mobbing am Arbeitsplatz. Christian muss, um seinen Vornamen und seinen Personenstand ändern zu dürfen, zwei Gutachten erbringen und während eines einjährigen Alltagstestes als Mann leben, ohne bereits operiert zu sein. Eine lebenslange Hormonbehandlung mit Testosteron und die große geschlechtsangleichende Operation, bei der auch männliche Geschlechtsorgane aufgebaut werden können, schließen sich an. Zudem setzt eine ganz besondere, nur bei Transsexuellen mögliche, körperliche und seelische Entwicklung ein: Die zweite Pubertät. Christian wird für eine kurze Zeit wieder ganz jung und erlebt sich innerlich und äußerlich zunächst wie ein zwölf- bis dreizehnjähriger Junge. Im Kreiskrankenhaus, wo er kranke Kinder bei den Hausaufgaben betreut, lernt er den holländischen Assistenzarzt Lukas van der Halen kennen. Lukas hält Christian zunächst für einen Jungen. Die Schwestern und Ärzte in der Klinik unterstützen den Alltagstest und so bleibt Lukas lange Zeit unwissend. Mit ungeahnten Folgen für die beiden, die ein außergewöhnliches Paar werden und eine atemberaubende Sexualität ausleben.

Trügerische Wahrheiten

Wie wird man eigentlich transsexuell? Als Lehrer musste ich mir diese Frage schon allein aus wissenschaftlicher Neugier stellen. Als selbst Betroffener erlebte ich alles ungefiltert und direkt. Ob man mit einer transsexuellen Prägung geboren wurde, welche Faktoren dafür eine Rolle spielten, ob es zufällig geschah, sozusagen als Laune der Natur: Das Leben erschien mir plötzlich wie ein Schmetterling. Ich flatterte mal hierhin und mal in die andere Richtung, fuhr in meinen Gefühlen Achterbahn, drehte Loopings und staunte über die Vielfalt an Lebensentwürfen, von deren Existenz ich bis vor einigen Monaten noch nicht einmal etwas ahnte. Eines stand für mich fest: Ich war entgegen meines biologischen Geschlechts keine Frau, sondern ein Mann. Nicht etwa ein Rambo oder ein Draufgänger. Ich brauchte weder mir, noch anderen etwas zu beweisen und meine Abenteuerlust hielt sich ebenfalls in Grenzen. Aber mir fehlte, seit ich vom dritten Lebensjahr an bewusst meinen Körper wahrnehmen konnte, etwas zwischen den Beinen. Etwas, das auch meiner Umgebung signalisiert hätte, schaut, da kommt ein kleiner Junge. Gespräche mit meiner Psychologin und Ärzten folgten, ich begann mit dem Alltagstest. Ich hatte nie eine wirklich starke weibliche Figur besessen und war schlank. Eine Kurzhaarfrisur, Brustgürtel und andere Kleidung machten einen überraschend jung wirkenden Jungen aus mir. Die erste Reaktion auf meinen bevorstehenden Geschlechtswechsel von meiner besten Freundin und gleichzeitigen Arbeitskollegin Henriette, die ich nur Henny nannte und ihrem Mann Frieder, der als Anwalt einen nicht unerheblichen Anteil an der Erfolgsgeschichte meines künftigen Lebens als Mann haben sollte, fiel eher zurückhaltend aus. In der Schule hatte ich eine Menge Querelen auszustehen. Das Outing im Eislaufverein und im Krankenhaus, wo ich die kranken Schüler bei den Hausaufgaben betreute, war im Gegensatz dazu überraschend gut verlaufen. Mit meiner Freundin, Schwester Gabi von der Kinderstation, und all den anderen in der Klinik war Stillschweigen über mein wahres Alter und meinen Beruf vereinbart worden. Sie unterstützten mich beim Alltagstest und schossen manchmal sogar weit über das Ziel hinaus. Alle duzten mich und behandelten mich wie einen dreizehnjährigen Schüler. Mit Gabi konnte ich immer herrlich herumalbern. Wir unterhielten uns oft über den holländischen Assistenzarzt Lukas van der Halen, dessen Ankunft schon sehnsüchtig in der Klinik erwartet wurde. In den Sommerferien war es soweit. Ich wollte kurz einige Kinder besuchen, die noch im Krankenhaus liegen mussten und traf mich erst einmal zum Gespräch mit Gabi. Sie nahm mich sofort zur Seite: Lukas hatte sich endlich zum Dienst gemeldet! Wir saßen im Schwesternzimmer und Gabi schwärmte in den höchsten Tönen. „Er sieht wirklich süß aus, Christian. Der Chef hat ihn herumgeführt und uns vorgestellt. Lukas läuft übrigens genau wie du Schlittschuh und ich bin froh, dass du keine Frau mehr bist. Sonst wärst du mit dem Hobby meine ärgste Konkurrentin!“ Sie hörte sich verliebt wie ein Teenager an. Ihre Kollegin Claudia, die als Lernschwester seit einem Jahr im Krankenhaus arbeitete, schmunzelte und neckte sie sofort. „Gabi überlegt bereits, Eislaufstunden zu nehmen, sobald die Schlittschuhhalle wieder aufmacht. Vielleicht wird sie ja noch Paarlaufweltmeisterin mit ihm.“ Mit meinem Kaffee in der Hand lachte ich ungezwungen auf. „Ich gebe dir Unterricht, Gabi. Wie ist er denn sonst so und warum kam er so spät?“ Sie fühlte sich in ihrem Element. „Er hatte sich tatsächlich beim Training am Fuß verletzt, nachdem er mit einem Jugendlichen zusammengestoßen war. Er interessiert sich sehr für Musik und Literatur und spricht mit einem ganz niedlichen Akzent. Wie die meisten Holländer eben. Und er raucht auch kein Hasch!“, beeilte sie sich zu sagen und spielte damit auf unsere früheren Witzeleien an. „Na, na, er wird dir sicher auch nichts über seine Besuche im Coffeeshop erzählen“, lästerte ich daraufhin. Wir prusteten los und bekamen uns kaum noch ein vor Lachen. Gabi holte ihr Handy heraus und zeigte uns einen etwas verwackelten Schnappschuss von Lukas, den sie heimlich aufgenommen hatte. Kurz darauf mussten die beiden ihre Runde machen.

Ich ging zu den zwei Mädchen, die in der Klinik behandelt wurden. Sie kamen ständig wegen Bluterkrankungen zur Überwachung ins Krankenhaus und freuten sich sehr, dass ich sie trotz der Ferien nicht vergessen hatte. Die Zeit verging wie im Flug. Liebevoll drückte ich die beiden zum Abschied und versprach, sie bald wieder zu besuchen. Als ich auf den Hof kam, wurde gerade eine Patientin im Rollstuhl von einem Arzt in den Park geschoben. Anhand des Handyfotos von Gabi erkannte ich ihn. Lukas van der Halen. Oh, la, la, dachte ich. Da hatte Gabi aber einen guten Geschmack bewiesen. Er sah wirklich nicht schlecht aus, besaß eine sehr sportliche Figur und dunkelblondes Haar. Fotos täuschten oft über kleine Unebenheiten hinweg und das Handyfoto war wirklich nicht sonderlich gut gewesen, deswegen sah ich mir das Original nun sehr genau an. Er stellte die Frau im Rollstuhl neben einer Bank ab, entfernte sich von ihr und begann mit seinem Handy zu telefonieren. Mir fielen sofort ein weicher Schritt und ebenso weiche Bewegungen auf. Etwas wie Seelenverwandtschaft lag zwischen uns. Das konnte ich deutlich spüren. Inzwischen hatte ich nicht nur viele Transsexuelle kennengelernt, sondern auch vorsichtig Abstecher in die Schwulenszene machen dürfen. Ich war ja wegen des Operationsvorgesprächs in einer Berliner Klinik gewesen und hatte mich dort abends mit den Jungs aus der Berliner Selbsthilfegruppe getroffen. Trotz meines kindlichen Aussehens konnte ich mich mit ihnen gut in den einschlägigen Berliner Lokalen bewegen. So hatte sich mein Erfahrungsschatz in diesem Bereich gewaltig erhöht und ich musste unwillkürlich lächeln, als ich Lukas näher betrachtete. Arme Gabi, dachte ich. Da müsste ich schon sehr falsch liegen, aber ich glaubte ziemlich sicher zu wissen, zu welcher sexuellen Ausrichtung unser Holländer gehörte. Heute war ein herrlicher Sommertag im Juli. Ich genoss einen Moment die wärmenden Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht und schloss wohlig die Augen. Einen Augenblick später öffnete ich sie wieder beunruhigt, denn ich musste unwillkürlich zu der alten Dame im Rollstuhl blicken. Die schaute sich zunächst interessiert um. Aber dann geschah etwas völlig Unerwartetes. Sie drückte ihre Hände auf die Griffe des Stuhles, zog sich hoch und stand im nächsten Augenblick auf ihren Beinen, welche nun sehr stark zitterten. Mir schwante nichts Gutes. Sie ging zwei Schritte auf die Bank neben sich zu und brach schneller zusammen, als ihr irgendjemand zu Hilfe kommen konnte. Ich dachte nicht mehr nach, rannte über den Rasen, wollte sie noch auffangen und kam doch zu spät. Sie lag bereits auf dem Boden und sah mich erschrocken an. Dankbar nahm sie meine dargebotene Hand. Eine Schwester, die das Unglück beobachtet hatte, war ebenfalls zu uns geeilt und auch aus den Fenstern sahen etliche Patienten und Angehörige zu uns hinunter. Mit vereinten Kräften schoben wir sie wieder in den Rollstuhl zurück. Der für sie Verantwortliche, Lukas van der Halen, beendete dagegen erst einmal seelenruhig sein Telefonat. Langsam setzte er sich in Bewegung und traf bei uns ein, als sich die Patientin schon wieder außer Gefahr befand. Ich war genauso über ihn empört, wie die junge Krankenschwester. Er handelte sich postwendend deshalb zwei böse Blicke von uns ein. Sein Auftreten zeigte für unseren Geschmack reichlich Arroganz. In meiner Werteskala war er deshalb augenblicklich ziemlich weit nach unten gerutscht. „Danke“, sagte er zu mir. „Wie heißt du?“ „Christian und Sie?“ „Ich bin Lukas, du darfst gerne du sagen. Das hast du gut gemacht. Ich hätte mich nicht so weit von der Patientin entfernen dürfen. Es war meine Schuld.“

Bingo, eins zu null für ihn. Seine weiche Stimme klang angenehm. Gabi hatte auch mit dem Akzent recht gehabt. Er hörte sich lustig an. Entgegen meiner Absicht lächelte ich und ließ ihn wegen seiner spontanen Einsicht und Entschuldigung auf der Skala gleich wieder nach oben klettern. Die Stimme setzte noch zwei Punkte darauf. Wir schauten einander in die Augen. Ein merkwürdiges Blitzen schien uns für einen Moment zu verbinden. Ich sah eine andere Welt, spürte ein leises merkwürdiges Kribbeln unter meiner Haut und bemerkte einen wohligen Schauer meinen Körper durchzucken. In Lukas Blick konnte ich Irritation lesen und gleichzeitig Zustimmung erkennen. Er versuchte augenscheinlich, seine Gefühle bewusst zu lenken und zu kanalisieren. In meinem Unterbewusstsein hatte ich ihn in weniger als sieben Sekunden analysiert und war mir sicher, er würde der richtige Vater für meine Kinder sein. Verflixt, dachte ich, ich bin doch jetzt ein Junge und werde mich als transsexuell geprägter Mann in Kürze männlich weiter entwickeln. Da passte dieser verrückte Gedanke überhaupt nicht hin! Ich lächelte verwirrt. „Ich muss jetzt nach Hause. Hat mich gefreut, dich kennenzulernen, Lukas. Tschüss.“ Er lächelte zurück. „Tschüss, Christian. Ich habe mich auch gefreut.“ Sein Ton wurde immer leiser und die letzten Worte waren kaum noch hörbar. Er zog den Rollstuhl an sich, sprach kurz mit seiner Patientin und fuhr sie wieder in Richtung Haus. Auf dem Heimweg nahm ich übermütig einen kleinen Ast in die Hand, warf ihn in den Schlossteich und hüpfte von einem Bein auf das andere. Gott sei Dank war sonst niemand im Park. Erschrocken hielt ich inne. Dass wäre schon ein peinlicher Auftritt, wenn mich jemand so herumtoben sehen würde! Was war bloß in mich gefahren?

Zu Hause musste ich erneut Koffer packen. Nach Berlin stand am nächsten Mittag die Reise nach München an. Danach würde es auch noch nach Frankfurt gehen. Ich wollte mich bei allen in Frage kommenden Chirurgen informieren, obgleich mir die Berliner Methode bereits sehr gefallen hatte. Lukas van der Halen geriet deshalb vorerst in den Hintergrund. Die Münchner Operation unterschied sich durch ihre mehrmaligen Einzeleingriffe von der in Berlin. Ich bezweifelte, dass die vielen Operationen für mich das Richtige wären, obwohl mir auch dieser Arzt sehr sympathisch war. Auch er nahm sich viel Zeit für mich und beantwortete geduldig alle Fragen. Am Abend traf ich mich mit der Münchner Selbsthilfegruppe. Gleich im Anschluss an die drei Tage in Bayern saß ich im ICE nach Frankfurt. Die Operation dort war wieder etwas anders und ich hatte plötzlich die Qual der Wahl. Gottlob brauchte ich mich ja noch nicht zu entscheiden. Der Eingriff würde erst im nächsten Jahr in den Sommerferien anstehen. Ich hatte also noch viel Zeit, die für mich optimale Methode herauszufinden. In Frankfurt traf ich mich ebenfalls mit der Selbsthilfegruppe. Ich lernte viele neue Freunde und Leidensgenossen kennen, so dass mein Notizbuch bald vor Anschriften, Mailadressen und Telefonnummern überquoll. Müde und glücklich genoss ich die Heimfahrt. Im Briefkasten lagen die ersten Arztberichte. Schnell ließ ich die Koffer Koffer sein und machte ich es mir in meiner Wohnung gemütlich. Ich hatte mir von allen Untersuchungsergebnissen Kopien erbeten. Die Berichte konnten mich nicht glücklicher stimmen. Ich war kerngesund und der Hormonbehandlung stand nichts mehr im Wege. Ein Anruf beim Urologen am nächsten Tag brachte endgültig Gewissheit. Der endokrinologische Befund war bei diesem bereits eingetroffen und gab uns grünes Licht. Aufgeregt wartete ich ein paar Tage später darauf, ins Sprechzimmer aufgerufen zu werden. Im Warteraum saßen nur ältere Männer, die mich mitleidig ansahen und überlegten, was ein Junge wie ich denn schon beim Urologen wollte. Doktor Jaruk war Belegarzt im Krankenhaus und ich erinnerte mich daran, dass Gabi mir erzählt hatte, Lukas sollte seinen Facharzt in der Urologie machen. Irgendwie war ich gar nicht so erpicht darauf, ihn als Patient dort kennenzulernen. Nachdem Doktor Jaruk einen Blick auf die Berichte geworfen hatte, schaute er mich fragend an. „Ich würde gerne mit der gegengeschlechtlichen Hormonbehandlung beginnen“, meinte ich. „Allein schon, um erwachsener zu wirken“, setzte ich zaghaft nach. Der ältere erfahrene Arzt lehnte sich im Stuhl zurück und sah mich aufmerksam an. „Es ist Ihre Entscheidung. Aber Sie wissen, dass sich nach etwa drei bis fünf Wochen ein irreversibler Stimmbruch einstellen wird! Bartwuchs und andere sekundäre männliche Geschlechtsmerkmale folgen erst später. Ihre Eierstöcke sollten spätestens im nächsten Jahr entfernt werden. Es kann andernfalls zur Tumorbildung kommen. Die Spritzen verabreiche ich Ihnen im Zeitraum von drei Wochen. Nach der Operation gibt es Präparate, die mindestens sechs, eventuell auch zehn bis zwölf Wochen halten. Ihre Libido wird sich verändern und Sie sollten in einem Sportstudio Ihren Muskelaufbau trainieren.“ Wie gut, dass der Doktor mir ungeschönt reinen Wein einschenkte. Mein Entschluss stand fest. „Wann darf ich die erste Spritze haben?“ Er schrieb ein Rezept aus. „Holen Sie sich das Mittel aus der Apotheke und kommen Sie wieder her. Sie brauchen keinen festen Arzttermin dafür. Die Sprechstundenhilfen notieren den Turnus und bestellen Sie zur Spritze ein. Ich gebe Ihnen die Injektion zwischendurch, während des Praxisbetriebs.“ Ich bedankte mich, stand auf und nahm das Rezept.

Draußen atmete ich erst einmal tief aus. Testosteron las ich auf dem Zettel, den ich nun nach so langen Jahren des Lebens im falschen Geschlecht endlich in der Hand hielt. Das war wie ein Befreiungsschlag für meine Seele. Zielgerichtet ging ich damit in die Apotheke, bat um zwei Kopien und zahlte mit der Kreditkarte. Als Privatpatient musste ich natürlich jedes Medikament erst einmal verauslagen. Das störte mich in diesem bedeutungsvollen Moment jedoch herzlich wenig. Für mich fühlte es sich wie Weihnachten und Geburtstag an einem Tag an, während ich die unscheinbare Packung mit den Ampullen betrachtete. Jetzt oder nie, dachte ich, machte kehrt und fuhr erneut ins obere Stockwerk des Ärztehauses zu Doktor Jaruk. Die Sprechstundenhilfe nahm mir das Päckchen ab, zog eine Ampulle heraus und reichte mir die restlichen zur Aufbewahrung. Ich sollte mich auf die Liege in einem kleinen Nebenraum legen und den Po freimachen. Doktor Jaruk kam und meinte, es gäbe gleich einen kleinen Piecks. Für mich öffneten sich derweil alle Himmelspforten. Ich sah die Engel vor meinem inneren Auge tanzen und jubilieren. Den Schmerz nahm ich kaum wahr. Als es vollbracht war, zog ich meine Jeans hoch und verabschiedete mich bis zur nächsten Spritze in drei Wochen. Wow! So einfach war das gewesen und so viel Aufwand und Zeit hatte es in Anspruch genommen, dorthin zu kommen! Wie würde mein Körper darauf reagieren? Wann brach die Stimme? Was passierte überhaupt, wenn ein Junge in den Stimmbruch kam? Den Rest des Abends las ich, was ich an Informationen dazu ergattern konnte im Internet. Um kurz nach Mitternacht rauchte mir der Kopf, aber ich war immer noch unglaublich glücklich. Die Sommerferien dauerten noch vierzehn Tage. Ich schlief täglich bis gegen Mittag. Langsam fühlte ich mich dadurch auch erholter. Den Ratschlag des Arztes befolgte ich gleich und wollte mich im Sportstudio anmelden. Der nette junge Mann am Tresen schüttelte den Kopf und fragte nach meinem Alter. Ich log und sagte Fünfzehn. Er lud mich zum Probetraining der Taekwondogruppe ein. Für die Geräte wäre ich nämlich noch etwas zu jung. Ob ich bald Sechzehn würde? Ich bejahte. Also, wenn ich in den Stimmbruch käme, dann könnte ich mit leichtem Muskeltraining beginnen. Solange sollte ich doch beim Kampfsport schon mal Kondition aufbauen. Mit klopfendem Herzen betrat ich am ersten Trainingsabend den Herrenumkleideraum. Zum Glück war niemand anderes dort, obwohl ich nur die Schuhe wechselte. Einen Kampfanzug besaß ich noch nicht, aber der Trainer gab mir gleich einen gebrauchten, den ich für wenig Geld abkaufen durfte. Vorsorglich ging ich in die Toilette, um ihn anzuprobieren. Die Turnschuhe konnte ich gleich wieder auslassen. Das Training fand barfuß statt. Die Grundübungen des Kampfsports zu erlernen, machte Spaß. Der Trainer besaß den schwarzen Gürtel und zeigte uns, wie man sich in nahezu allen Lebenssituationen Angreifer vom Hals halten konnte. Ich zog nach dem Training in der Toilette wieder Jeans und T-Shirt über und duschte bei mir zu Hause. An den nächsten Übungstagen wiederholte ich die Prozedur, bis ich einmal so durchgeschwitzt war, dass ich nur noch unter die Dusche wollte. Ich stand wieder allein im Umkleidebereich. Schnell nahm ich mein Handtuch und das Waschmittel in die Hand und lief in den angrenzenden Duschraum. Dort drehte ich das Wasser auf, stellte mich mit dem Kopf zur Wand und beeilte mich. Das Handtuch hielt ich nach dem Waschen geschickt vor die verräterischen Stellen meines Körpers, trocknete mich ab und zog mir rasch die Unterwäsche an. Ein Junge war zwischenzeitlich hereingekommen, sagte „Moin“ und verschwand zwischen den Spindreihen. Mit meinem Brustgürtel ging ich vorsorglich in die Toilette. Geschafft! Fertig angezogen verabschiedete ich mich erleichtert von den wenigen Leuten, die am späten Nachmittag bereits an den Geräten trainierten. In meiner Hamburger Selbsthilfegruppe erzählte ich den anderen von meinen Erfahrungen. Andreas, der diese sehr kompetent leitete, meinte, dass wäre gar nicht ungewöhnlich. Die meisten Leute erwarteten keine Frau in einem Männerumkleideraum und deshalb würde ich mit meiner kleinen List auch unbeschadet durchkommen. Er erklärte, man könnte sich dieses Phänomen zu Nutzen machen. Wenn man etwas wollte, das nicht unter die Kategorie Ausweise oder Bank fiel, könnte man getrost bewusst in der gewünschten Rolle auftreten. Sich ständig outen oder gar Angst zu haben, bräuchte niemand. Die meisten Versicherungsverträge waren inzwischen geschlechtsneutral abgefasst, so dass es keinerlei rechtliche Klippen gab. Auch Wohnungen durfte man im neuen Geschlecht bereits mieten. Einzig bei Kaufverträgen, die notariell zu beurkunden waren, kam der Personalausweis wieder ins Spiel. Für die gesetzlichen Regelungen zu dem Thema könnte ich mich auf etlichen gut ausgestatteten Internetseiten umsehen. Der Ernst des Lebens begann kurz darauf auch wieder.

Die Ferien gingen zu Ende und ich würde nach den ganzen Querelen in der Schule um meine Transsexualität eine neue Klasse übernehmen, eine elfte. Natürlich hatte ich mich fachlich sehr gut vorbereitet, aber der Gedanke, gleich vor fast erwachsenen jungen Menschen zu stehen, machte mich unruhig. Wie würden die Jugendlichen auf meine Problematik reagieren?, fragte ich mich mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend. Henny warf mir auf dem Flur einen aufmunternden Blick zu. Entschlossen drückte ich auf die Türklinke zum Klassenraum der Elf b. Achtzehn Augenpaare sahen mich freundlich und erwartungsvoll an, als ich eintrat. Die Vorstellung bei den Kids verlief locker und gelöst. Alle bekräftigten ihren Wunsch, sich ernsthaft zu bemühen, um mit guten Mathe-Noten durchs Abitur zu kommen. Die Klassensprecherin Jenny meldete sich: „Herr Rieger, wir alle wissen, in welcher Situation Sie sich befinden und wir stehen geschlossen hinter Ihnen. Aber wir haben ein Problem. Es ist so, Sie sehen echt noch sehr jung aus … und auch mir fällt es schwer, Sie zu siezen.“ Ich lachte erleichtert. Das ließ sich regeln. „Jenny und Sie alle, wir können das Problem lösen, indem wir komplett zum du übergehen. Was haltet ihr davon? Das einzige, was ich mir ausbitte, ist Lerndisziplin. Wenn ihr fleißig mitarbeitet, helft ihr mir am meisten und für euch ist das mit Sicherheit ja auch nützlich. Mir wäre es am liebsten, wenn die schlechteste Note, die ich vergebe, ein Befriedigend sein wird.“ Die Klasse stimmte einhellig zu. In den Physikklassen machte ich es genauso und bot den Jugendlichen gleich zu Beginn das du an. Einige kamen nach dem Unterricht zu mir und erzählten zähneknirschend von ihren Problemen. Mathematik und Physik ließ die meisten nun mal eben nicht gerade in Begeisterungsstürme ausbrechen. Ich schaute mir bei jedem einzelnen den jeweiligen Wissensstand an. Gemeinsam mit den Schülern stellte ich einen individuell zugeschnitten Lehrplan auf. Die besten der Klasse beförderte ich zu Nachhilfelehrern für die eigenen Klassenkameraden, aber auch für die Unterstufenklassen. Die intensive Betreuung machte sich rasch bezahlt. Die Schüler verbesserten sich und dem einen oder anderen machten die naturwissenschaftlichen Fächer plötzlich ein bisschen Spaß. Direktor Cornelius fand deshalb lobende Worte für mich, die ich auf die Leistungsbereitschaft und Disziplin der Kids zurückführte und an sie weitergab. Es blieb mir somit Zeit und Ruhe für die Gespräche mit Frau Doktor Vollmer und den beiden Gutachtern. Einzig meine körperliche Entwicklung bereitete mir Kummer. Ich hatte nun schon die zweite Testosteroninjektion bekommen, aber meine Stimmbänder weigerten sich, sich zu dehnen. Täglich sprach ich auf meinen Anrufbeantworter, um meine Stimme zu hören, in der Hoffnung, es würde sich bald mal etwas tun. Aber nichts geschah. Meine Stimme blieb hoch und knabenhaft wie immer. Traurig erzählte ich Doktor Jaruk davon. Er meinte, das wäre zwar gar nicht so ungewöhnlich, nahm aber eine HNO- Ärztin mit ins Boot. Ungeduldig erwartete ich den Termin bei ihr. Im Krankenhaus hatte ich auf Lukas van der Halen enormen Eindruck gemacht. Er fand es großartig, dass ein Junge sich so engagiert für kranke Mitschüler einsetzte und ihnen bei den Hausaufgaben half. Gabi erzählte mir, wie nett Lukas von mir gesprochen hätte. Sie hatte ihm daraufhin mitgeteilt, dass ich auch anders konnte und manchmal sogar ziemlich ungezogen wäre. Mir fehlte ihrer Meinung nach eine männliche Bezugsperson und zuweilen eine härtere Erziehung. Ich tat daraufhin wütend und stellte mich hinter Gabi, geradeso, als wollte ich sie würgen. Wir lachten uns kaputt. Lukas fragte mich bei Gelegenheit, ob ich tatsächlich so gut Eislaufen könnte, wie Gabi ihm berichtet hätte. Ich erzählte ihm von Hamburg und dem Verein, dem ich seit meinem vierten Lebensjahr angehörte. Die ersten sechs Jahre war ich in der Hansestadt zu Hause gewesen, bis wir nach Nordfriesland umzogen. Lukas wollte gerne einmal zum Training mitkommen. Ich rief meine Freunde und den Vereinsvorsitzenden an und bat alle, mich weiterhin als einen Jungen zu betrachten und entsprechend zu behandeln, damit ich meinen Alltagstest ungestört weiter durchführen konnte. Sie versprachen es und lachten ebenfalls über den Spaß mit dem holländischen Arzt, der vielleicht auch demnächst mit ihnen trainieren würde. Am Wochenende trafen wir uns zum Sondereis. Lukas machte gar keine so schlechte Figur auf seinen Schlittschuhen. Er sprang sogar den Axel einfach und erzählte, er hätte als Junge öfter an Wettbewerben teilgenommen. Überhaupt erfuhr ich während der Fahrt einiges von ihm. Er war gebürtiger Holländer und in Eindhoven aufgewachsen. Auch sein Vater war Arzt gewesen und mit der Familie nach Münster umgesiedelt, als Lukas acht Jahre alt wurde. Seine Eltern starben vor einigen Jahren nacheinander. Ich schluckte und dachte bereits daran, ihm die Wahrheit über mich zu sagen. Doch dann hörte ich ihm einfach weiter zu. Er machte sein Abitur in Deutschland und studierte in Heidelberg Medizin. Nun wollte er bei uns im Krankenhaus arbeiten und Facharzt für Urologie werden. Die Doktorarbeit stünde auch noch aus. Er hätte bisher noch kein interessantes Thema gefunden. Ich wollte ihm schon sagen, er sollte doch Transsexualität als Grundlage für seine Dissertation nehmen, schwieg dann aber. Er hätte sicher nachgefragt, wieso ich darauf käme. Ich wollte mich nicht verraten. Noch nicht! Stattdessen fragte ich ihn, ob er eigentlich eine Freundin hätte. Verblüfft sah er mich an. Schmunzelnd legte er mir die Hand auf den Kopf und wuschelte durch mein Haar. Seine Finger strichen unter mein Kinn. Ich erschauerte innerlich und wollte mich schon leicht an ihn schmiegen. Er musste etwas gemerkt haben und nahm die Hand erschrocken zurück. Ein seltsamer Augenausdruck lag währenddessen auf seinem Gesicht. Dann lächelte er und schüttelte den Kopf. „Nein, Christian. Ich habe keine Freundin. Ich erzähle dir den Grund, wenn du etwas älter bist“, antwortete er. Ich schlug die Augen nieder. Nun hatte ich wirklich ein schlechtes Gewissen bekommen. So privat wollte ich nicht zu ihm vordringen. Die Beantwortung meiner Frage schien ihm unangenehm zu sein. Aber für mich stand fest, dass Lukas homosexuell war.

Der Besuch bei der HNO-Ärztin verlief positiv für mich. Sie erklärte mir die Vorgänge beim Stimmbruch und meinte, durch die Testosteronzufuhr vergrößerte sich bei einem Jungen der Kehlkopf. Die Stimmbänder dehnten sich, wurden dadurch länger und auch dicker. Die Knabenstimme sackte eine ganze Oktave hinunter. Weil sich aber nicht alle Stimmbänder gleichzeitig veränderten, käme es zum berühmten Kieksen und Überschlagen der Stimme. Sie konnte mich beruhigen. Bei mir wäre alles in Ordnung und ich würde ganz normal in den Stimmbruch kommen, sobald mein Körper eine gewisse Menge an Testosteron aufwies. Ich sollte einfach noch ein paar Wochen warten. Zufrieden besprach ich den Arztbericht mit Doktor Jaruk. Als ich am folgenden Nachmittag gerade Kopfrechnen mit den kleinen Patienten auf der Kinderstation im Krankenhaus übte, erschien Lukas bei uns. Er schlug mir vor, in den Herbstferien für ein paar Tage mit ihm nach Köln zu fahren. Lukas wollte einen Ärztekongress besuchen und hatte gesehen, dass ein internationales Eishockeyturnier in der Zeit seines Aufenthalts stattfinden würde. Wir könnten uns alles ansehen und auch die Filmstudios besuchen. Ich war sofort hellauf begeistert und bedankte mich überschwänglich. Das Ganze hätte aber einen Haken, meinte er. Für die vier Übernachtungen im Hotel würde er mir ein Einzelzimmer buchen, bräuchte aber die Zustimmung meiner Eltern, dass ich mitfahren durfte. Nun hatte ich den Salat. So ein Shit! Wie sollte ich dieses Problem bloß lösen? Um kurz vor vier Uhr saß ich grübelnd im Auto und überlegte, ihm jetzt doch endlich alles einzugestehen. Da kam plötzlich ein Anruf von Henny. „Christian, hast Du kurz Zeit, auf Mario aufzupassen? Ich muss zum Frisör. Das dauert aber nicht lange.“ Natürlich sagte ich gleich zu. Mario war Hennys Sohn, fünf Jahre alt und ein aufgewecktes kleines Kerlchen. Ein paar Minuten später drückte Henny mir ihren Lausejungen in die Hand und war schon im nächsten Augenblick verschwunden. Ich tobte erst mit Mario im Garten herum und kochte uns dann Kakao. Kuchen stand reichlich auf dem Tisch. Nach einer guten Stunde kam Henny zurück. Sie sollte am Abend mit Frieder in die Oper und hatte sich deswegen stylen lassen. Vergnügt suchten wir gemeinsam ein Abendkleid aus ihrem prall gefüllten Kleiderschrank im Schlafzimmer heraus. Bei der Gelegenheit erzählte ich ihr von meinem Problem mit der Einladung nach Köln und bat sie um Rat. Sie setzte sich neben mich aufs Bett und überlegte einen Augenblick. Dann fragte sie mich nach meinem Handy. Verwundert gab ich es ihr. Ich dachte mir auch nichts dabei, als sie mein Adressbuch durchforstete und plötzlich auf eine Nummer drückte. „Ja, guten Tag, Herr Doktor van der Halen. Hier ist Henriette Junge, die Tante von Christian Rieger. Er erzählt mir gerade von Ihrer netten Einladung. Es ist so, dass ich nach dem Tod seiner Mutter das Sorgerecht für ihn habe. Aber ich hätte nichts dagegen, wenn er in den Ferien mit Ihnen verreist. Sie sind doch Arzt hier im Krankenhaus?“ Nein! Um Gottes Willen! Ich saß wie erstarrt auf dem Bett und sperrte Mund und Augen auf. Himmel, dachte ich, Henny, wie kannst du so etwas machen? Wenn das rauskommt! „Also dann, vielen Dank und ich glaube, er freut sich schon riesig. Auf Wiederhören, Herr Doktor“, hörte ich sie sagen, während ich immer noch mit offenem Mund daneben saß. „Wie war ich?“, fragte sie keck und gab mir übermütig mein Handy zurück. „Henny, bist du total verrückt geworden? Du übergeschnappte Nudel bist meine beste Freundin und nicht meine Tante!“ Ich fand meine Sprache wieder. „Wo ist der Unterschied, du kleiner Racker? Du darfst jetzt mit dem lieben Onkel Lukas verreisen. Nun gib der Tante brav einen Kuss, ehe ich mir das wieder anders überlege.“ Das war typisch meine Henny. Mit solch außergewöhnlichen Aktionen musste man bei ihr immer rechnen. Frieder erzählte mir einmal, das wäre der Grund für ihn gewesen, sie vom Fleck weg zu heiraten. Ich musste einfach lachen. Als ich nach Hause ging, verabschiedete ich mich provokant mit: „Tschüss, Tante Henriette.“ Die Bezeichnung würde sie bei mir nicht mehr loswerden, das ahnte Henny auch. Aufgeregt wie ein kleiner Junge fieberte ich den Herbstferien entgegen.

Wir wollten am Mittwoch losfahren und am Sonntag wieder nach Hause kommen. Ich durfte Lukas während der zweitägigen Veranstaltung im Kongresszentrum begleiten. Er meinte, ich wäre vernünftig genug, den Vorträgen dort zuzuhören und vielleicht hätte ich ja nach dem Abitur Lust, Medizin zu studieren. Ich hatte mit Henny über alle möglichen Katastrophen gesprochen, die auf der Fahrt eintreten könnten. Der Toilettenbesuch war kein Problem, solange es Kabinen gab. Lukas hatte wie versprochen zwei Einzelzimmer in einem teuren erstklassigen Hotel gebucht. Somit hätte ich genügend Privatsphäre, zum Beispiel, um die Brustbinde umzuwickeln. Meine Kleidung, die ich in einen kleinen Koffer gesteckt hatte, war ganz auf die Bedürfnisse eines Jungen abgestimmt worden. Zusätzlich wollte ich meinen braunen Rucksack mitnehmen. Alles schien perfekt organisiert zu sein. Plötzlich sah mich Henny erschrocken an. Ihr war etwas eingefallen, das uns zunächst gewaltiges Kopfzerbrechen bereitete. Ich müsste nämlich im Hotel wohl oder übel meinen Ausweis vorlegen. Und darin stünde nicht nur der weibliche Name, sondern auch der Buchstabe F für Female und natürlich mein Geburtsdatum. Außerdem hätten dreizehnjährige Knaben in der Regel noch keinen Erwachsenen-Personalausweis. Wir waren ratlos. Doch dann kam ich auf eine glorreiche Idee. Warum konnte ich meinen Ausweis nicht schlicht und einfach vergessen? Stattdessen wollte ich meinen uralten Schülerausweis vom Goethegymnasium einstecken. Das gute Stück war nicht nur ordentlich abgegriffen, sondern auch völlig ausgeblichen. Das e für Christiane war ebenso unleserlich, wie mein Geburtsjahr. Nur das Foto sah plötzlich wieder echt aus. Im Notfall sollte der Hotelangestellte bei ‚Tante Henriette’ anrufen. Die würde ihm sofort meine Identität bestätigen, hätte aber überhaupt keine Zeit, nach meinem Kinderausweis und einem Fax zu suchen. Wenn Frieder in seiner Eigenschaft als Rechtsanwalt nur annähernd geahnt hätte, welche kriminellen und trickreichen Energien seine Frau und ich gerade entwickelten, wäre er restlos schockiert gewesen und hätte uns wohl für viele Jahre in einer Zelle in der nächstgelegenen Frauenvollzugsanstalt einsitzen gesehen. Pünktlich wartete ich am Mittwochmorgen vor dem verabredeten Treffpunkt. Ich hatte eine Bushaltestelle mit Lukas ausgemacht, weil meine ‚Tante’ bereits sehr früh zur Arbeit fahren müsste. Er schöpfte keinen Verdacht. Wir saßen in seinem Wagen, einem gerade mal zwei Jahre alten BMW3er Touring, und ich spielte meine Rolle so überzeugend, dass ich mich nur noch über mich selbst wundern konnte. Am ersten Halt verschwand ich auf dem Klo in der Toilettenkabine, währenddessen sich Lukas ans Becken stellte. Später aßen wir an einer Raststätte zu Mittag. „Du isst Salat? Das ist ja klasse. Die meisten Jungen futtern bloß Hamburger. Völlig ungesunde Ernährung.“ Ich schmunzelte und genoss meinen gemischten Salatteller. Nur die obligatorische Tasse Kaffee begann mir zu fehlen. Wahrscheinlich war ich genau wie Millionen anderer Bundesbürger bereits süchtig nach dem Koffein. Ich beschloss, mir bei nächster Gelegenheit ein paar Beutel mit fertiger Mischung zu besorgen und heimlich in meinem Zimmer eine Kaffeeorgie zu zelebrieren. Das Hotel, in dem wir am späten Nachmittag ankamen, lag ganz in der Nähe der Messehallen. Wir konnten problemlos alles zu Fuß erreichen und Lukas meinte, unsere Ausflüge würden wir mit öffentlichen Verkehrsmitteln machen. Sein Zimmer lag gleich neben meinem. Fröhlich warf ich meinen Rucksack aufs Bett und prüfte die Matratze, wie es Jugendliche in meinem Alter zu tun pflegten, indem ich kurzerhand hinterher sprang. Die Einrichtung ließ keine Wünsche offen. Ich steckte die Karte für das Türschloss sofort in meinen Brustbeutel. Als ich den Hotelprospekt las, trauerte ich etwas um das schicke Hotelschwimmbad. Meine Brust verhinderte vorerst noch öffentliches Baden als Junge. Abends suchten wir uns ein nettes, kleines Lokal am Rheinufer, aßen etwas und schlenderten danach an der Rheinpromenade entlang. Für Oktober war es noch außergewöhnlich warm. Viele Menschen genossen wie wir einen Spaziergang am Wasser. Überall leuchteten Reklameschilder, brannten Lichter und ich saß, wie ein junger Bursche, um halb zehn Uhr noch eisschleckend auf der hohen Mauer, die mich vom langsam dahin plätschernden Vater Rhein trennte. Aus dem herrlich klaren Himmel funkelten Abermillionen Sterne auf uns herab. Lukas erklärte mir geduldig die Sternbilder. Nur widerwillig folgte ich ihm ins Hotel. Um kurz nach zehn Uhr wäre Bettzeit für mich, hatte er beschlossen. Das hatte ich jetzt davon, dass ich wie ein Junge rüberkam. Ich bat mir aus, noch einen Moment fernsehen zu dürfen. Meinen Wecker stellte ich rechtzeitig auf halb sieben Uhr, so dass ich am anderen Morgen genügend Zeit haben würde, um mich zu duschen und anzuziehen. Alles lief planmäßig. Wir trafen uns wie verabredet um halb acht Uhr morgens vor meinem Zimmer und machten uns zum Frühstücksraum auf. Ich trank erst einmal einen schwarzen Tee, in der Hoffnung wenigstens so auf mein Quantum Suchtstoff Koffein zu kommen. Lukas merkte es nicht und ich genoss den Geschmack des Getränks. Den Rest des Vormittags und Teile des Nachmittags verbrachten wir im Kongresszentrum. Die Vorträge waren interessant und ich verstand mehr, als Lukas ahnte. Ich musste nur aufpassen, ihm nicht zu kluge Fragen zu stellen. Wir hatten unsere Schlittschuhe mitgenommen und am Abend drehten wir unsere Runden auf dem Eis. Lukas war von meinen Fähigkeiten sehr angetan und fragte mich, warum ich in meinem Alter schon so gut Eislaufen konnte. Ich schmunzelte bloß und zeigte ihm einige Schritte. Die folgenden Tage waren mit Aktivitäten angefüllt und ich fühlte mich herrlich entspannt. Gerne hätte ich auch der transsexuellen Selbsthilfegruppe in Köln einen Besuch abgestattet, aber das ging ja leider nicht, ohne Lukas meine wahre Identität preiszugeben. Den Dom hatten wir natürlich auch besichtigt und an einer Stadtführung teilgenommen. Am letzten Abend saßen wir gerade in einem noblen Restaurant beim Essen, als plötzlich ein junger Mann auf Lukas zukam. Er umarmte ihn und küsste ihn zur Begrüßung auf den Mund. Lukas sah mich etwas erschrocken an. Na also. Mein Verdacht hinsichtlich Lukas‘ Homosexualität bestätigte sich damit. „Ist schon okay, Lukas. Ich bin doch kein kleines Kind mehr“, entrüstete ich mich betont vorwurfsvoll. „Du hättest mir aber ruhig sagen können, dass du schwul bist!“ Jetzt war es heraus. Er hatte keine Chance mehr, seine Ausrichtung zu verbergen. „Gut, wir reden später darüber“, sagte er ruhig und schien über die unerwartete Entwicklung gar nicht so unglücklich zu sein. Er stellte mich dem Freund vor, der ein ehemaliger Studienkollege war, und erzählte ihm vom Grund unseres Kölnaufenthalts. Der junge Mann hieß Steven und war jetzt in Köln als Techniker bei einer Computerfirma angestellt. Sie verabredeten im Anschluss an unser Essen, eine Bar zu besuchen. Ich zog gleich meine Jacke über. Neugierig und voller Vorfreude trieb ich die beiden zur Eile an. Vielleicht würden wir in eine Schwulenbar gehen? Aber da hatte ich die Rechnung ohne meinen Freund Lukas gemacht. „Christian, ich bringe dich jetzt ins Hotel zurück und dort bleibst du, verstanden? Du kannst fernsehen und auch gerne noch ins Schwimmbad runtergehen, aber du verlässt das Hotel nicht eigenmächtig, ist das bei dir angekommen? Ich spreche mit dem Bediensteten an der Rezeption, damit er ein Auge auf dich hat. Du machst mir sonst zu viel Blödsinn.“ „Kann ich nicht mit euch kommen? Ich bin ganz artig. Und schwul bin ich übrigens auch!“, rief ich laut aus. Natürlich war mir klar, welche Reaktion ich damit heraufbeschwor. Die ließ auch nicht lange auf sich warten. Meine frechen Worte waren anscheinend selbst Steven peinlich. Er zog mich rasch aus dem teuren Restaurant, während Lukas den Ober herbeirief und die Rechnung bezahlte. Lukas Augen waren sehr schmal geworden, als er auf der Uferpromenade wieder bei uns stand. So wütend hatte ich ihn noch nie erlebt und ich machte mich auf das Schlimmste gefasst. „Ist ja schon gut. Reg dich ab und mach bloß keinen Fehler. Kinder schlagen ist nämlich verboten“, beeilte ich mich zu klugscheißen und zuckte gespielt ängstlich zusammen, als erwartete ich tatsächlich im nächsten Moment eine Kopfnuss. Lukas atmete ein und bemühte sich um Haltung.

Mit zusammengebissenen Zähnen zischte er: „In Holland nicht! Und jetzt weiß ich, was Schwester Gabi meinte, als sie sagte, du brauchst eine harte Erziehung. Deine Tante tut mir leid, sie hat es bestimmt nicht leicht mit einem Rüpel wie dir.“ Er legte mir seine Hand schwer in den Nacken. Autsch. Das drückte und tat verflucht weh! Weil ich natürlich als Mädchen aufgezogen und sozialisiert worden war, kannte ich derartige schmerzhafte Erziehungsmaßnahmen selbstredend nicht. Ich überlegte. Sich jetzt zu outen, hätte die beiden sicher nur zum ungläubigen Lachen gebracht. Wahrscheinlich wäre Lukas dann erst richtig wütend geworden, wenn ich ihm erklärt hätte, biologisch eigentlich eine erwachsene Frau zu sein. Ich beschloss deshalb, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Es erschien mir auch gerecht. Ich hatte A gesagt und nun war B fällig. Also hieß es, die Rolle bis zum bitteren Ende weiter zu spielen. Ich versuchte dem Druck auf meinem Hals zu entkommen, indem ich die Schultern hochzog. Das half aber nichts, sondern löste, wie ich entsetzt bemerkte, genau das Gegenteil aus. Der Griff lockerte sich nicht, sondern wurde dadurch nur noch fester. „Entschuldige, ich wollte nicht frech sein. Es tut mir wirklich sehr leid!“, sagte ich leise und meinte es sogar ehrlich damit. Lukas hatte mir wunderschöne, unbeschwerte Tage der Entspannung und Erholung geschenkt, so dass ich mich im Moment tatsächlich schlecht fühlte und absolut nicht wollte, dass wir im Streit auseinander gingen. „Deine Hand tut weh. Ich komme mit zum Hotel und verspreche, mich dort anständig zu benehmen. Mach dir einen schönen Abend mit Steven. Ihr habt euch sicher viel zu erzählen“, versuchte ich die Situation zu retten. Mit Erfolg. Lukas‘ Hand wurde weich. Er legte sogar, während wir uns in Bewegung setzten, freundlich wie ein großer Bruder, seinen Arm um mich. Ich fühlte dabei etwas Eigenartiges in mir aufsteigen. Eine noch nie gekannte Wärme durchflutete mein Herz und vor meinem inneren Auge sah ich plötzlich meine Eltern lächeln. Gedanken und Gefühle schwirrten durch meinen Kopf. Sollte Lukas der Mann sein, der für mich vorgesehen war? Eine zaghafte Zärtlichkeit lag in seinem Blick, als ich zu ihm aufsah. Ich lächelte und schämte mich der winzig kleinen Träne im Auge nicht. Tief in mir drinnen ahnte ich, was in diesen Augenblicken von mir Besitz ergriffen hatte und dankte meinem Schöpfer dafür. Liebe konnte einen in den Himmel empor tragen und über den Wolken schweben lassen. Doch sie konnte im Gegenzug auch unsagbaren Schmerz verursachen. Aber welche Wahl blieb mir? Gab es überhaupt eine? Wenn die Liebe erst da war, konnte man sich dann noch erfolgreich von ihr abwenden? Schweigend ließ ich alle aufsteigenden Gefühle zu. Ich dachte auch an meinen Freund Rolf, der auf dem Friedhof das Grab seiner Frau pflegte. Hatte er nicht gesagt, alles wäre von Gott vorbestimmt? Ich ließ mich von Lukas in mein Zimmer bringen, legte zum Abschied liebevoll die Hand auf seinen Arm und wünschte ihm alles Gute mit Steven. Ein paar Minuten später lag ich allein und heulend vor Eifersucht auf dem Bett. Die Welt drehte sich um mich. Ich flog erst hoch zu den Sternen hinauf und fuhr danach auf einer riesigen Achterbahn durchs All. Irgendwann musste ich erschöpft eingeschlafen sein. Tief in der Nacht erwachte ich und dachte in der Finsternis an den vergangenen Abend, der mein Leben von einer Sekunde zur anderen so grundlegend verändert hatte.

Ich liebte. Es war das schönste Gefühl, dass ich mir jemals vorstellen konnte. Vorsichtig zog ich mich im Dunkeln aus. Das tiefe wundersame Empfinden der Liebe sollte nicht durch das grelle Licht einer Nachttischlampe vertrieben werden. Ich wollte den Höhenflug solange es nur möglich war, spüren. Wenn es nach mir ging, dann würde dieser Traum niemals enden. Doch irgendwann musste ich dem geliebten Menschen die Wahrheit sagen. Wie würde er darauf reagieren? Teilte er überhaupt meine Gefühle? Liebte auch er mich? Hatte ich womöglich durch meine Lüge bereits alles zunichte gemacht, bevor es erst richtig anfangen konnte? Zweifel begannen an mir zu nagen. Ich spürte Schuld aufkommen, die schwerer auf meiner Seele lastete, als Lukas‘ Hand auf meiner Schulter am Abend zuvor. Ich betete und bat Gott verzweifelt, alles gut werden zu lassen. Tränen rannen auf einmal über mein Gesicht. Schluchzend starrte ich in die tiefschwarze Nacht. Vom Himmel fiel ich hinab in die Hölle. Ich litt die grausamsten Qualen in meinem Leben. Selbst der Tod meiner geliebten Eltern hatte nichts der so plötzlich auftretenden Angst entgegenzusetzen, dieses größte und vielleicht einzige Glück meines Lebens möglicherweise schon wieder für immer verloren zu haben. Ich schämte mich über meine Schadenfreude und den Schabernack, den ich Lukas gespielt hatte und für den ich so leichtfertig das Risiko eingegangen war, das zarte Pflänzchen einer gemeinsamen Liebe wieder zu zerstören.