Manuel Magiera

Die Dubendorfer Eiche

Erfolgreicher bookrix Wettbewerbsbeitrag „Gruene Riesen“

Der Ort Dubendorf liegt nur wenige Kilometer von der tschechischen Grenze entfernt. Achthundertzweiundvierzig Seelen zählt die Gemeinde zurzeit, doch wenn es nach dem Bürgermeister geht, so wird sich das sehr bald ändern. Der Bebauungsplan eines neuen Wohngebietes für mindestens fünfzig neue Häuser steht nun endgültig fest und heute soll im Gemeinderat darüber abgestimmt werden. Martin Jannik ist guter Dinge. Seit fast zehn Jahren füllt der Landwirt auch das Amt des Bürgermeisters seines Dorfes aus, in dem er 1961 das Licht der Welt erblickte. Seine Eltern waren genau Neun Monate verheiratet gewesen, als die sechzigjährige Hebamme Swetlana aus dem tschechischen Nachbardorf mit dem Fahrrad herüber eilte, um ihn unter der alten knorrigen Eiche auf der Anhöhe außerhalb des Dorfes aus dem Schoße seiner Mutter zu befreien. Es war eine schwierige und gefährliche Geburt. Die junge Bäuerin hatte auf dem Feld gegenüber Rüben gehackt, so wie es damals üblich war, weil die Frauen noch bis kurz vor der Niederkunft ihren Arbeiten nachkamen. Die Wehen setzten dann derart heftig ein, dass sie sich nur noch im Schatten des stattlichen uralten Waldbaumes, dessen Stamm sich in weitausgreifenden Ästen auflöste, an deren Enden unzählige grüne Eichenblätter Schutz vor allen Wettern boten, niederlegen und auf Hilfe warten konnte. Swetlana, von der man sagte, sie hätte alle Kinder der Umgebung auf die Welt geholt, tat ihr Bestes und löste die Nabelschnur, die sich bereits eng um den Hals des Säuglings gelegt hatte. Der kleine Junge tat daraufhin seinen ersten Schrei. Und sein Weg führte ihn immer wieder zur alten Eiche zurück, die aus den Dubendorfer Chroniken nicht wegzudenken war und entweder als mittelalterlicher Richtplatz diente oder für die Dorfjugend den romantischen Ort darstellte, an dem man seiner Angebeteten den ersten Kuss gab. Manch einer machte dort auch, wie Martin seiner Erika, der Dame des Herzens den Antrag fürs gemeinsame Leben. Martin sitzt im Wohnzimmer an seinem uralten Eichenschreibtisch, der nun schon seit erster urkundlicher Erwähnung des Hofes aus dem Jahre 1758 im Besitz der Familie ist und sieht auf den Bebauungsplan vor sich. Die Eiche, die ihm damals ins Leben half, ist dort nicht mehr vorgesehen. Noch weiß niemand der anderen Gemeinderatsmitglieder etwas davon. Seine eigene Tochter Kathrin gehört seit der letzten Kommunalwahl vor einem halben Jahr ebenfalls dazu. Aber die neunzehnjährige frisch gebackene Abiturientin ist eine glühende Anhängerin der Grünen und mit großer Mehrheit für ihre Partei von den Bürgern Dubendorfs gewählt worden. Vater und Tochter mussten seitdem bereits heftigste Dispute miteinander ausfechten. Sie kommt ganz nach mir, denkt Martin stolz. Nur die Schönheit hat sie gottlob von ihrer Mutter. Doch wie wird sie reagieren, wenn sie erfährt, dass die alte Dubendorfer Eiche dem Neubaugebiet weichen soll? Auf dem Hof sind die Geräusche herannahender und parkender Autos zu hören. Hier auf dem Land trifft man sich zur Gemeinderatsitzung noch beim Bürgermeister in der guten Stube. Es klopft an der Tür. „Herein“, ruft Martin Jannik. Nach und nach treten die sieben Besucher ein. Kathrin erscheint als Letzte und schließt auch die Tür. „Einen schönen guten Abend, wünsche ich euch allen. Wir sind vollzählig, wie ich sehe. Dann sollten wir auch gleich zum wichtigsten Tagesordnungspunkt kommen. Der Bebauungsplan für unser ausgewiesenes Neubaugebiet ist fertig und kann nun eingesehen werden.“ Jannik zeigt auf den Tisch inmitten der Stube, auf dem er den Plan gerade ausgebreitet hat. Die Mitglieder erheben sich schweigend. Auch Kathrin blickt interessiert auf das Papier. Sie fährt mit dem Finger einige Linien nach und sieht ihren Vater plötzlich stirnrunzelnd an. „Herr Bürgermeister, ich habe eine Frage“, erklärt das junge Mädchen. Martin schluckt. Es hat nichts Gutes zu bedeuten, wenn seine Tochter die förmliche Anrede wählt. „Ja, Kathrin, ich weiß. Aber lass doch bitte die Förmlichkeiten. Was möchtest du wissen?“ „Also, sehe ich das hier richtig? Auf diesem Plan ist nirgendwo die alte Dubendorfer Eiche eingezeichnet?“ Martin nickt mit dem Kopf. Auch Clarissa Neumann, die seit acht Jahren im Ort lebt und in der Kreisstadt als Gymnasiallehrerin tätig ist, blickt ihn neugierig an. „Es ist selbst für mich kein schöner Gedanke. Doch der Baum steht im Weg. Er muss leider gefällt werden. Ich habe ein Gutachten in Auftrag gegeben, wonach die Eiche an vielen Stellen bereits krank ist. Sie leidet unter Mehltau und Blattflecken. Darüber hinaus ist sie ebenfalls von dem in Europa weit verbreiteten Eichensterben betroffen. Zu guter Letzt wurde sie zudem vom Eichen Raupenprozessionsspinner heimgesucht, der als Ursache der Hautausschläge bei Raupendermatitis gilt. So leid es mir tut, aber wir müssen uns von der Eiche trennen.“ Georg Zuder zuckte beim letzten Satz seines langjährigen Freundes und Parteigefährten zusammen. Sein Vater und sein Onkel wurden am 9. April 1940 von der Gestapo gehängt. Man warf ihnen Kollaboration mit den Juden in der Kreisstadt vor und tötete sie kurzerhand auf der Anhöhe. Der kleine Georg musste alles mit ansehen. Er war erst fünf Jahre alt gewesen. Doch seither legte er jedes Jahr zusammen mit seiner Familie am Todestag des Vaters Blumen unter die Eiche, gerade an der Stelle, an der die beiden den Tod fanden. Der Gedanke, dass die Eiche nun nicht mehr vorhanden sein sollte, treibt dem gestandenen Mann und Bauern Tränen ins Gesicht. „Nein“, Martin. Das kannst du nicht von mir verlangen. Die Eiche bleibt. Sie ist ein Symbol des Faschismus und als Mahnmal für die Gräueltaten der NS Diktatur nicht wegzudenken“, erklärt er fest und standhaft.

Fritz Keller ist Dorfschullehrer. „Martin, das kann nicht dein Ernst sein. Du hast deiner Erika genau wie wir alle, dort oben den Heiratsantrag gemacht. Im Übrigen stand die Eiche schon hier, als das Dorf 1650 gegründet wurde. Dub heißt Eiche auf Tschechisch. Dubendorf bedeutet übersetzt nichts anderes als Eichendorf. Wir müssten uns ja einen neuen Namen geben, wollten wir deinen Vorschlag in die Tat umsetzen. Ein Freund von mir ist Botaniker in Hamburg. Er wird sicher einen Weg finden, die Eiche von ihren Krankheiten zu befreien und zu erhalten. Ich stimme gegen den Bebauungsplan.“ Auch Henning Svoboda, der seit dem Tode seines Vaters den einzigen Gasthof im Dorf führt, kann sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, die alte Eiche zu verlieren. „Ich muss den anderen zustimmen, Martin. Meine Familie lebt schon seit dem achtzehnten Jahrhundert hier in der Gemeinde. Wenn die Eiche sprechen könnte, würde sie fast jedem von uns unsere Familiengeschichte erzählen. Auch ich habe Vorfahren dort verloren. Einer meiner Urahnen wurde unter der Eiche geköpft, weil er angeblich einen Nebenbuhler erschlagen haben soll. Es hat uns als Kinder zwar immer an dem Baum gegruselt. Aber das ist kein Grund, ihn nun zu fällen, nur weil ein Architekt nicht in der Lage ist, Natur und Neubau unter einen Hut zu bringen.“ Martin hat sich seufzend wieder auf seinen Platz gesetzt. Er schaut zu seinem Freund Max Pavlac. Dieser nickt mit dem Kopf. „Ich schließe mich den Vorrednern an. Auch meine Familie ist eng mit dem Schicksal des Baumes verbunden. Mein Urururgroßvater war der letzte Henker der Region. Er durfte sich, wie es üblich war, eine zum Tode verurteilte Frau ausbitten und sie ehelichen. Ich bin sozusagen das Endprodukt aus dieser Beziehung und fühle mich deswegen der Eiche verpflichtet. Als Junge habe ich dort wie wir alle gespielt und die Namen von meiner Claudia und mir bereits mit sechzehn Jahren in die Rinde geritzt. Claudia wird einem Fällen der Eiche niemals zustimmen. Ich glaube, von den alteingesessenen Frauen wird das keine tun“, meint der Henkersnachkomme bestimmt. „Das denke ich ebenfalls“, meldet sich Christel Ahrends zu Wort. Die alleinstehende, inzwischen verwitwete Frau besitzt einen Campingplatz, der am See der Gemeinde belegen ist und ihr ein einigermaßen ausreichendes Einkommen gewährleistet.

„Ich bin sehr oft mit meinem Otto dort bei der Eiche gewesen. Auch unsere Sommergäste kennen die vielen Geschichten, die sich um den Baum und seine langjährige Tradition ranken und sie wären sicher sehr traurig, wenn es ihn nicht mehr gäbe. Ich bin mit dem Plan so wie er jetzt aussieht nicht einverstanden.“ Gespannt blicken die Gemeinderatsmitglieder ihren Bürgermeister an. Der senkt etwas betreten den Kopf. Das Gutachten und der Architekt haben bereits einiges an Geld verschlungen. Auch das muss er jetzt beichten. Aber was solls. „Gut, dann werde ich den Plan an den Architekten zurückgeben. Er soll einen Weg finden, die Eiche für das Dorf zu erhalten. Außerdem spreche ich mit dem Förster und du Fritz, benachrichtigst bitte deinen Freund, damit er sich das gute Stück mal ansieht. Wenn jetzt nichts mehr anliegt und der Plan ansonsten eure Zustimmung findet, können wir über den Rest abstimmen und vertagen den Fall der Eiche bis auf weiteres. Ich bitte um Handzeichen.“ Der Bebauungsplan an sich wurde einstimmig angenommen. Zwei Monate später legte dann der Architekt einen neuen Plan vor, in dem die Eiche explizit erhalten blieb. Allerdings steht das Gutachten des Baumsachverständigen noch aus, so dass hinsichtlich der Krankheitsbehandlung noch nichts Konkretes gesagt werden konnte.