Tammo

Ein Königssohn zwischen Macht und Intrige

Historischer Roman

 

Vorwort

Als ich im November 2021 einen Vortrag über die Elbslawen hörte und auf die Schlacht von Lenzen am 4./.5.09.929 aufmerksam wurde, ließ mich dieses Thema nicht mehr los. Meine Recherchen führten zunächst in die Familiengeschichte des Sachsenkönigs Heinrich I (876-936), welche sich derart umfangreich und interessant gestaltete, dass ich ein halbes Jahr brauchte, bis ich mich mit der eigentlichen Schlacht und ihrem Verlauf befassen konnte. 

Einer Person, die nicht auf dem Schlachtfeld anwesend gewesen war, jedoch auf mysteriöse Weise damit verbunden zu sein schien, galt und gilt mein besonderes Interesse. Es handelt sich um den erstgeborenen Sohn Heinrichs I mit Namen Thankmar, welcher von seinem Familienmitglied, Bischof und Geschichtsschreiber Thietmar von Merseburg in friesischer Kurzform in der Familienchronik liebevoll Tammo genannt wird. 

Tammos Leben war geprägt von Hass und Intrigen. Er starb auf perfide Weise im Kampf um seine Erbansprüche. Die Grundlage zum dauerhaften Bruderzwist unter den Söhnen des auf Ausgleich und Freundschaftsbindung bedachten Sachsenkönigs Heinrich I wurde von diesem selbst gelegt. Nur Otto, der Erstgeborene seiner zweiten Frau Mathilde sollte die Krone erben. Heinrichs Idee der Primogenitur um das Reich nicht weiter aufsplittern zu lassen, war grundsätzlich wohl richtig. Doch als Vater machte er etwas falsch. Was sich nach seinem Tod ereignete, hätte er sicher nicht gewollt.

Tammo wurde für mich zur wichtigsten Figur in der Auseinandersetzung mit den Elbslawen und der Schlacht bei Lenzen. Widukind von Corvey, der seine Sachsengeschichte für König Ottos 955 geborene Tochter Mathilde schrieb, bemerkte erst für das Jahr 936 in einer Rückblende auf das Schlachtenjahr 929 einen angeblichen Gesandten Tammos, der von den Redariern verletzt worden wäre und den Otto im Jahr 936 kurz nach dem Tod Vater Heinrichs und der eigenen Krönung in Aachen, rächen wollte. Einen Grund für Ottos ersten Feldzug als König gibt es nicht, denn der Bruder des sachsentreuen Königs Wenzel von Böhmen mit Namen Boleslav hatte diesen grad getötet und schickte sich an, gegen die Sachsen mobil zu machen. Otto hätte also mehr Grund zu einem Feldzug nach Böhmen gehabt. Woher kam der Sinneswandel? Was oder wer steckte hinter dem Gesandten? Hatte Tammo etwas damit zu tun?

Während ich mit wissenschaftlicher Neugier und Hingabe weiter in Lenzen nach dem Schlachtfeld und den Gräbern der dort beerdigten Soldaten suche, schreibe ich zeitgleich Tammos Geschichte.

Der Roman mit historischer Anlehnung muss Raum für eigene Gedanken gestatten. Die wahren Hintergründe zum kurzen Leben des Sachsenprinzen liegen im Dunkel der Geschichte und werden sicher nie geklärt werden können. Aber ich bemühe mich, die wissenschaftlich gesicherten Puzzleteile so zusammenzusetzen, dass die Geschichte der Realität sehr nahe kommt. Dabei möchte ich in die verletzte Seele Tammos blicken, der von seiner Familie betrogen und verraten wurde und ihm zu einem besseren Platz in der Geschichte verhelfen als es bisher der Fall war.

 

 

28. Juli 938, in der Peterskirche auf der Eresburg/Marsberg

 

Eine Kirche war der Ort des Friedens, des Gebets und der Einkehr in das Wesen und die Unendlichkeit Gottes. Im Haus des himmlischen Vaters hatten Waffen zu schweigen und verblassten alle Fehden. Jedweder Hass, Hader und Streit ruhten, während der Zwiesprache mit dem Herrn, dessen gekreuzigter Sohn über die Betenden wachte. In Seiner Wohnstatt rief man Kinder bei ihrem Namen und taufte sie in Seinem. Ehen wurden geschlossen und für die Seelen der Verstorbenen gebetet. Niemals durfte in den heiligen Räumen eine Waffe gegen einen anderen erhoben werden. In der Kirche herrschten einzig und allein Gottes Gnade, Güte und Barmherzigkeit.

Thankmar kannte die Regeln, die fast so alt waren, wie die Christenheit selbst. In der Obhut des himmlischen Vaters durfte sich jeder Mensch in Sicherheit und Geborgenheit wähnen. Das ungeschriebene Gesetz fand seine vollste Zustimmung. Niemals würde er es brechen, hatte er noch bis vor einigen Minuten geglaubt. Und doch, das Unfassbare war soeben geschehen. Thankmars Atem verließ den Mund stoßweise. Die Anstrengung des unerwarteten kurzen Kampfes stand dem jungen Mann ins Gesicht geschrieben. Seine ebenmäßigen Gesichtszüge, die seiner Mutter ähnelten zeigten große Anspannung. Er hatte noch nicht bemerkt, dass er an der Schulter von einem Schwerthieb getroffen worden war und blutete. Der Ärmel seines mit goldenen Fäden durchwirkten Waffenrockes war aufgerissen und gab den Blick auf eine hässliche Fleischwunde frei. Aber er spürte den Schmerz, der unweigerlich dieser, wenngleich nicht todbringenden Verletzung, folgen musste, noch nicht. Sein Geist versuchte das soeben erlebte unerhörte Ereignis zu verarbeiten. Der älteste Sohn des vor zwei Jahren verstorbenen Sachsenkönigs Heinrich I stand erschüttert vor dem Altar der Peterskirche.  Was hätte er tun sollen?, fragte er sich. Er konnte doch gar nicht anders reagieren! Sollte er sich abschlachten lassen, hier im Hause Gottes? Der andere war es gewesen, der mit rasendem Blick und erhobenem Schwert auf ihn zu gerannt kam. Natürlich musste sich Thankmar dem Angreifer entgegenstellen. Jeder, der angegriffen wurde, hatte das Recht auf Verteidigung. Selbst, wenn dabei das Heim Gottes entweiht wurde. Nur langsam kam er wieder zu sich und begann seine Gedanken zu ordnen. Wütend, mit Zornesfalten auf der Stirn, blickte er auf den blutigen Leichnam Thiatbolds, welcher kurz zuvor zu Boden gesunken war und röchelnd seinen letzten Atemzug getan hatte. Nun lag er zu Thankmars Füßen. Der hatte den Angreifer zunächst abgewehrt, wurde dabei selbst verletzt. Sodann wich er dessen nächstem Schlag nach rechts aus, um ihn im Anschluss mit einem einzigen Schwerthieb niederzustrecken. Thankmar zitterte vor Empörung. Wie konnte es dieser Thiatbold überhaupt wagen?  Ein einfacher Gefolgsmann seines Bruders Heinrich! Noch nicht einmal Graf und von nur niederem Adel. Zudem noch in der Kirche! Und es war nicht irgendeine Kirche, in die sich der Sachsenprinz geflüchtet hatte.

Sie war 799 von keinem geringeren als Papst Leo III persönlich geweiht worden, Leo, der auf dem Weg nach Paderborn zum großen Karl hier Station machte. Der diesem Haus Gottes den Namen seiner Kirche in Rom gab: Peterskirche. Benannt nach dem Heiligen Petrus daselbst. Leo, der ein Jahr später am Weihnachtstag anno 800 dem Frankenkönig die Kaiserkrone aufs Haupt setzte und ihm durch Kniefall seine Ehrerbietung und Dank für die Hilfe gegen die feindlich gesinnten Optimaten zu teil werden ließ. 

Tammo, wie er von seinen Freunden genannt wurde war zurecht verärgert. Thiatbold, ein armseliger Vasall, hatte es gewagt, ihn, den Königssohn Sachsens, Bruder des regierenden Königs Otto I in der Kirche auf der Eresburg anzugreifen. Während sich seine Augen zum Altar wandten, beförderte er sein von Schweiß verklebtes blondes langes Haar mit einer kurzen Kopfbewegung aus dem Gesicht. Das von Thiatbolds Blut besudelte Schwert lag noch immer in seiner Hand. Aber der feste Griff seiner Faust auf dem Elfenbeinknauf hatte sich gelockert, als er erleichtert erkannte, dass er soeben dem Tode entronnen war. Doch die Zeit drängte. Sein königlicher Bruder stand vor den Toren der Eresburg. Otto erwartete Tammos Unterwerfung. Der wusste, dass es keinen Sinn machen würde, weiter zu kämpfen und sich Ottos Willen zu widersetzen. Er hatte verloren. Vorerst jedenfalls. Nachdem die Burgbesatzer beim Anblick des Heeres ihres Königs die Burgtore geöffnet hatten, war auch sein Schicksal besiegelt worden. Er musste sich unterwerfen, wollte er einer möglichen Hinrichtung entgehen. Aber würde Otto ihn wirklich töten lassen? Ein König, der Regentschaft und Macht auf einem Brudermord gründete, entsprach nicht Ottos Vorstellungen von einem königlichen Herrscher. Dazu kannte Tammo ihn zu gut. Gleichwohl hielt er weder die Versprechen des gemeinsamen Vaters König Heinrich ein, die Befehlsgewalt über die slawische Ostmark an Tammo zu geben, welche Heinrich noch am Sterbebett seinem ältesten Sohn vor Zeugen zugesichert und ausdrücklich als letzten Wunsch zur Wahrung und Unteilbarkeit des Reiches kundgetan hatte, noch schloss sich Otto Heinrichs erfolgreichem Bestreben an, den Frieden im Land als Gleicher unter Gleichen zu sichern. Otto fühlte sich nicht als Freund, als amicus seiner Grafen und Großen im Reich, wie es der Vater erfolgreich dem Adel gewährte. Otto war überheblich und glaubte vor und über den anderen, vor allem den Herzögen, stehen zu müssen. Das brachte ihm seit seiner Krönung vor zwei Jahren in der Dompfalz zu Aachen, wo er sich auf dem Thron des Frankenkönigs Karl von allen huldigen ließ, ziemlichen Ärger ein. Zunächst wandte sich der Ältere der Billunger, Wichmann, Gemahl Bias, der Schwester von Ottos Mutter Mathilde, ab. Wichmann war ein erfahrener Kämpfer und der Posten des Heerführers, des princeps militiae, hätte ihm zugestanden. Otto gab das Amt jedoch an Herrmann Billung, des Wichmanns jüngeren Bruder, der noch ohne militärische Erfahrung war und sich im Kampfe nicht bewähren konnte. Wichmann verließ daraufhin Krankheit vorschützend den Feldzug zu den Redariern, die Otto gleich nach seiner Krönung als erstes endgültig besiegen wollte. Einen Grund für den neuen Krieg mit ihnen nannte Otto nicht. Die slawischen Barbaren aus dem Osten waren neun Jahre zuvor, anno 929 vernichtend bei Luncini geschlagen worden. Sie hatten ihre Tribute in der Folge ohne Unterbrechung gezahlt und verhielten sich ruhig. Tammo sah mehr Anlass zur Sorge bei den Böhmen, denn der getreue christliche König Wenzel war von seinem heidnischen Bruder Boleslav im Streit getötet worden. Boleslav hielt jedweden Tribut an die Sachsen auf der Stelle zurück. Wenn Otto also etwas tun musste, dann Boleslav unterwerfen. 

Und dennoch durfte Otto gegenüber dem älteren Bruder misstrauisch sein. Tammos Gedanken wollten zurückkehren, in die Zeit der großen Schlacht an der Elbe, von der er ahnte, dass er selbst einen nicht geringen Beitrag dazu geleistet hatte. Doch er hielt inne. Nicht jetzt. Er beugte das Knie und lehnte sich über den Toten. Mit einem Ruck zerriss er den Waffenrock Thiatbolds, der ihn bis vor die Stufen zum Altar verfolgt hatte und fand in der zweiten Schicht der Kleidung einen sauberen blutfreien Fetzen grün gefärbten Leinenstoffs. Konzentriert begann er das Blut des Angreifers von seinem Schwert abzuwischen. Er wollte es nicht besudelt auf dem Altar ablegen. Sein Bruder sollte die Geste als das sehen, was sie war: Das Zeichen seiner Unterwerfung. Liebevoll hielt er das Eisen, welches ihm sein Vater vor neun Jahren, kurz vor dem Feldzug, der ihn zu den Hevellern, den Daleminziern und nach Böhmen in die herrliche Stadt Prag zu König Wenzel führte, schenkte. 

Tammo war damals ein Jüngling von dreiundzwanzig Jahren gewesen. Hoch gewachsen, stark wie ein Wikinger, mit blondem langen Haar, das er von seiner wunderschönen Mutter Hatheburg von Merseburg geerbt hatte. Ein kleiner rötlich schimmernder Bartflaum umspielte seinen Mund, welcher inzwischen als Mann im besten Erwachsenenalter von kräftig sprießenden Barthaaren umgeben war. Sein Vater empfing ihn im separierten Besprechungsraum von dessen Pfalz Tilleda, im Süden des Harzes gelegen. Neugierig hatte Tammo auf dem einfachen Holzschemel, welcher an der Wand lehnte, Platz genommen. 

„Mein Sohn, du bist nun ein Mann und auf einem Feldzug wird dein Schwert dein treuester Verbündeter sein“, begann der König die Unterredung. Tammo lächelte verlegen. Es kam nicht oft vor, dass der Vater so freundlich mit ihm sprach. Und Tammo gehörte ohnehin nicht zu den Personen, die den Herrscher umgaben und ihn beraten durften. Er sah sich meist als Prinz zweiten Ranges, was ihn die Bediensteten und Diener auch spüren ließen. Seine Brüder machten allerdings noch keine Unterschiede, glaubte er. Wenigstens hatte er bisher nichts Gegenteiliges bemerkt. Königin Mathilde, die der Vater nach der Scheidung von Tammos Mutter Hatheburg als Vierzehnjährige geheiratet hatte, bemühte sich, alle Kinder gleich zu achten und zu beschenken. Trotzdem konnte sie nicht verhehlen, dass sie den zehnjährigen Heinrich, welcher 919 während der Königsherrschaft ihres Gemahls geboren worden war, lieber auf dem Sachsenthron gesehen hätte, als den ältesten, Otto, der ihr im Gegensatz zu dem kleinen Heinrich auch nicht ähnlich sah. Otto glich in Gestalt, Augen- und Haarfarbe mehr seinem Vater. Nicht, dass Mathilde unglücklich in ihrer altersmäßig ungewöhnlichen Ehe gewesen wäre. Heinrich betete seine junge Frau an, beschenkte sie mit Schmuck und schönen Kleidern. Er war ein guter Vater und ein zärtlicher Ehemann, der seiner Gemahlin jeden Wunsch von den Augen ablas. Doch in der Nachfolgefrage gab sich Heinrich unversöhnlich. Tammo erinnerte sich mit Wehmut an die Worte des Vaters, als ihm dieser die reich mit Gold verzierte lederne Schwertscheide in Tilleda umgürtete. „Sie sieht gut aus. Ich habe sie extra für dich in Auftrag gegeben, mein Sohn. Auch wenn nur einer von euch meine Krone erben kann, so will ich euch alle so ausgestattet wissen, dass ihr euch von meinen Vasallen unterscheidet und als königliche Prinzen überall erkannt werdet. Nun, dieses Schwert wird dir, dem Erstgeborenen, würdig sein.“ 

Tammo war überrascht aufgestanden und fühlte eine ihm unbekannte Liebe zu seinem Vater aufsteigen, der sich in all den Jahren, in denen der Sohn ihn am meisten gebraucht hätte, stets unnahbar und abweisend verhalten hatte. Die karolingische Spatha war schwer, doch sie fügte sich so leicht in die Hand ihres künftigen Trägers, als ob sie extra für diesen angefertigt worden war. Gleißendes Sonnenlicht wurde von der glatt polierten und hell glänzenden Schneide zurückgeworfen, so dass sich der angenehm überraschte junge Prinz wie in einem Spiegel darin betrachten konnte. Fest hielt er den wohl geformten Elfenbeinknauf in seiner Faust. Er drehte sich, hob die Waffe in die Höhe, schlug nach vorn, parierte und stieß sie etliche Male in die Luft. „Vater, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es ist ein wundervolles Geschmeide. Dem Schmied gebührt hohe Achtung für eine solch herrliche Arbeit. Ich werde das Schwert für dich in jedem Kampf, den ich bestreite, führen und alle deine Feinde damit besiegen. Ich will dir stets Ehre bereiten!“ Er steckte das Geschenk in die üppig mit Gold verzierte Scheide an seinen Gürtel, kniete vor dem Vater, der sein König war, nieder und küsste dessen rechte Hand. Heinrich nickte wohlwollend. 

„Ich freue mich, wenn es dir gefällt, mein Sohn. Wenn wir von unserem Feldzug zurückkehren, will ich deiner Stiefmutter ihr Witwentum beurkunden und dies von deinem Bruder bestätigen lassen. Deine Mutter Hatheburg war eine wunderschöne Frau, die ich sehr geliebt habe. Aber sie hatte bereits den Schleier genommen und das zog Ungemach mit dem Bischof und der Kirche nach sich. Nun, der Bischof bedeutete mir nichts, sie jedoch gehörte dadurch schon dem Herrn. Ich hätte ihm sonst die Frau genommen und das durfte ich natürlich nicht. Deshalb musste sie ins Kloster zurückkehren, aber ich ließ sie nach Herford bringen. Es ist eines unserer Familienklöster, wie du weißt. Theodrada von Soissons war die Cousine des Frankenkönigs und Kaisers Karl. Als erste Äbtissin legte sie den Grundstein für die hochadlige Abstammung ihrer Nachfolgerinnen. Addelina, meine Urgroßmutter, die Tochter der heiligen Ida von Herzfeld, die wiederum die einzige Tochter des viel zu früh dahingeschiedenen Karlmanns war, Bruder des großen Frankenkaisers, wurde zweite Äbtissin. Ihr folgte ihre Nichte Haduwich und danach Mathilde, aus dem Hause der Immedinger, Ururenkelin unseres Ahnen, des Sachsenherzogs Widukind, mit dem auch ich über meinen Urgroßvater Brun II verwandt bin. Mathilde, ebenfalls Witwe eines Widukindnachkommens aus der Linie des Widukindsohnes Wikbert, führte das Kloster weiter und erzog dort ihre Enkeltochter, meine junge Frau, die nach alter Tradition ihren Namen trug. Auch deine Mutter entstammte über ihre Mutter Wentilburg, welche eine Schwester der Gemahlin meines hochgeschätzten Erziehers, Brautwerbers und Heerführers, Graf Thietmar von Ostfalen, war, unserer widukindischen Blutlinie über die Söhne des Billunc, eines Verwandten Warnechin von Engerns.  Das Kloster Herford war deshalb die würdigste Wirkungsstätte, die ich für deine Mutter als Dienerin des Herrn und für kurze Zeit Gemahlin des Herzogs von Sachsen finden konnte. Und aus deinen Erzählungen und ihren Briefen an mich, schloss ich, dass sie dort bis zu ihrem beklagenswerten Tod vor drei Jahren, ihren Frieden gefunden hat. Diesen Feldzug führe ich auch für deine liebe Mutter, Thankmar. Die Ungarn waren es, die das Kloster überfielen und niederbrannten. Die Aufregung und Angst waren zu viel für meine edle Hatheburg gewesen. Sie wurde krank und erholte sich von dem Gemetzel nie mehr. Möge der Herr sie in Frieden in sein Reich aufgenommen haben und ihr das ewige Leben schenken. Der Waffenstillstand, den ich daselbst mit den Ungarn aushandelte, währt nur neun Jahre. Ich will diese Horden ein für alle Mal aus meinem Land jagen und sie unterwerfen. Sie sollen niemals mehr Ungemach und Tod über die unsrigen bringen. Das habe ich 927 auf dem Ingelheimer Hoftag mit Bayernherzog Arnulf besprochen. 

Wir werden diesen Kampf jetzt vorbereiten. Erst ziehen wir zu den Hevellern. Die Fürstin Ludmilla von Böhmen, Großmutter des böhmischen Königs Wenzel, wurde vor acht Jahren von ihrer Heveller-Schwiegertochter Drahomira umgebracht. Ludmilla war Christin. Sie hatte den künftigen König Wenzel erzogen. Drahomira ist die Schwester des Heveller Fürsten Bacqlabic und somit Tante des künftigen Heveller Anführers Tugomir. Sie regierte für ihren unmündigen Sohn Wenzel und zahlte Böhmens Tribut bisher an den Bayernherzog, damit er das Land vor uns Sachsen beschützte. Die ungarischen Barbaren ließ sie ungehindert durch böhmische Lande ziehen, damit sie über uns herfallen konnten. Doch damit ist nun Schluss. Ich habe mit Arnulf von Bayern eine Abmachung getroffen und die böhmischen Tribute gehen ab sofort an Sachsen. Die heidnische Drahomira wollte deshalb nicht mehr zahlen, jagte alle bayerischen Geistlichen aus dem Land. Ich will den Hevellern dafür eine Lektion erteilen und Drahomiras Neffen Tugomir und ihre Nichte mit nach Sachsen nehmen und dort zu guten Christen erziehen lassen. Tugomir soll später zurückkehren und sein Volk dazu bringen mir zu huldigen. 

Den anderen aber, den Daleminziern, werde ich bösen Schaden zufügen. Denn auch sie waren es, die den ungarischen Barbaren Zutritt ins Sachsenreich gewährten, indem sie sie über ihr eigenes Territorium ziehen ließen. Die Daleminzier haben die Brandschatzung Herfords erst möglich gemacht. Mit Arnulf werde ich nach ihrer Unterwerfung zu König Wenzel ziehen, gegen den ich nichts habe, solange er mir Tribut zahlt und mir huldigt. Wenn er sich fügt, will ich Böhmen verschonen. Die Daleminzier aber sind mit schuld am Tode deiner lieben Mutter. Mein Sohn, mit diesem Schwert sollst du Hatheburg von Merseburg rächen. Ich will niemanden von den Erwachsenen am Leben lassen. Nur die Kinder bringen wir zu uns und erziehen sie zu guten Christen und gehorsamen Untertanen. So, nun gehe mit meinem Segen und dem Segen Gottes, mein Sohn. Schicke mir deinen Bruder herein. Ich will ihm auftragen, dir nach meinem Tode die Markgrafenwürde der Ostmark zu verleihen. Du sollst über die slawischen Völker herrschen und ihre Tribute für deinen Bruder eintreiben. Ein fester Anteil daran wird dein Auskommen und Leben als Königssohn sichern, wie es einem sächsischen Prinzen gebührt.“ 

Tammo hatte den Worten des Vaters aufmerksam zugehört. Vor drei Jahren durfte er seine Mutter erstmalig im Kloster besuchen. Er zählte damals gerade einmal zwanzig Lenze. Seine Mutter war bereits sehr krank. Sie hustete viel Blut, bekam kaum Luft. Der Überfall der Ungarn kostete drei ihrer Nonnen das Leben, das hatte sie sich nie verzeihen können, obgleich es nicht ihre Schuld gewesen war. Die Nonnen lebten friedlich im Kloster, beteten und arbeiteten für ihren Glauben, halfen dem Volk, versorgten Kranke. Die ungarischen Barbaren raubten sie aus, zerstörten die Kirche und töteten die Klosterschwestern. Nur einen Monat nach seinem ersten Kontakt zu Hatheburg von Merseburg, im Jahre des Herrn anno 926, brachte ihm ein Bote die Kunde vom Tode der geliebten Mutter. 

Tammo weinte um sie und begann alle Barbaren zu hassen. Nun war der Tag der Rache gekommen. Eigentlich hätte er als Erstgeborener auch das Recht auf die Krone Sachsens gehabt. Die Ehe der Eltern war zwar annulliert worden, aber das änderte nichts an seinem Anspruch. Doch Heinrich wollte das Land nicht unter den Söhnen aufteilen, wie es seit Karl dem Großen üblich gewesen war. Durch die stets neu währenden Teilungen, beim Aussterben einer Linie, war dessen Reich, ständig kleiner geworden, bis es ganz auseinanderbrach. Die jahrelangen Kämpfe der Erben zermürbten zudem die Untertanen, die anstatt als Bauern ihre Felder zu bestellen, Waffendienste leisten mussten. Heinrich wollte die Primogenitur in Sachsen einführen. Damit würde stets der erstgeborene Sohn die Krone erben und das Reich als Ganzes erhalten. Aber er hatte nicht Tammo als Erben auserwählt, sondern seinen zweitgeborenen Sohn Otto. 

Dessen Mutter entstammte in gerader Linie dem widukindischen Geschlecht. Die junge Mathilde war die Tochter Thieatrichs von Ringelheim und seiner Gemahlin Reinhild, Tochter des Dänenfürsten Gottfried, welcher von Widukinds Schwester Imhild, die mit Harald von Haithabu verheiratet gewesen war, abstammte.  Thieatrichs Mutter Mathilde war eine Tochter Immeds I. Die Eltern Immeds I, Hilde und Abbio, waren die Tochter des Widukind und dessen Freund und Waffengefährte. Der Name Mathilde als Leitname stammte von Kunhilde von Rügen, der Mutter Widukinds und Gemahlin von dessen Vater Warnechin von Engern. Mathildes Vater Ekbert entstammte der edlen Familie des Egbert und der heiligen Ida von Herzfeld, welche daselbst nachgeborene Tochter des Karlmann, des viel zu früh verstorbenen Bruders des großen Karl, war. Ekbert jun wurde als Sohn des ältesten Sohnes von Egbert sen. , Cobbo der Ältere, der im diplomatischen Dienste Kaiser Ludwig des Frommen stand, geboren. Cobbos Schwester Addila wurde mit ihrer Ehe mit Brun II von Engern Stammutter der Liudolfinger und gründete damit das Haus und Geschlecht Heinrichs. Der Sachsenherzog Widukind war also ebenso im Blut Ottos vertreten wie der ärgste Feind des Widukind, der Karolinger Karl. Tammos mütterliche Abstammung konnte mit der seines Halbbruders nicht mithalten.

Vater der ersten Gemahlin Heinrichs, Hatheburg, war der reiche Erwin von Merseburg gewesen, ihre Mutter Wentilpurg, die Schwester der Ehefrau des Erziehers Heinrichs Graf Thietmar von Ostfalen, Hildegard. Beide Schwestern waren wie Tammos Mutter und Tante Gerlint reiche Erbtöchter aus der Umgebung Merseburgs. Sie gehörten zur weitläufigen Verwandtschaft der frühen Billunger, obgleich sie diesen Namen, der auf einem Vornamen eines der Vorfahren beruhte, nie führten. Als sich der Frankenkönig, den sie den großen Karl nannten, anschickte, anno 777 gegen den Sachsenführer Widukind aus Engern zu Felde zu ziehen um das Volk der Sachsen zu unterwerfen, liefen einige Verwandte aus der Sippe Widukinds zu Karl über.  Darunter Hildebold, der mit der Schwägerin Haselas verheiratet war. Hasela, eine Tochter des Widukind. Haselas Mann Berno war der Sohn Bruns gewesen, des Widukinds Heerführer und angeheirateter Cousin zu diesem. Bernos Schwester Suaanhilde hatte den abtrünnigen Hildebold geheiratet, dessen Vater Liudolf ebenfalls zum entfernten widukindischen Kreis gehörte. Der alte Mann ging aus Scham über den Frevel seines einzigen Sohnes 785 ins Kloster und verlor seinen ganzen Besitz, just als Widukind Schutz beim Dänenkönig Siegfried und dessen Bruder und seinem Schwager Harald von Haithabu suchte. Widukinds Schwester Imhild daselbst war Gemahlin des Harald, welcher nach dem Tode seines Bruders König der Dänen wurde.  Hildebold aber und seine Frau mussten fliehen. Karl gab ihnen bei Kaufungen Land, welches er rodete. Auch die Familie des Amelung, eines Sohnes des Billunc, musste ihre Heimat verlassen.  Widukinds Vater, Warnechin von Engern, duldete keine Verräter in seinen Reihen. Hasela und Berno bekamen einen Sohn, welchen sie nach dem Großvater Brun nannten. Als dieser herangewachsen war, nahm er eine Tochter des großen Grafen Ekbert und der heiligen Ida von Herzfeld zur Frau. Addelina, über ihre Mutter Großnichte des Karl, bekam einen Sohn, den sie in Ehrerbietung an den unglückseligen Vater Hildebolds, Liudolf nannte. Hildebolds Name wurde nie wieder in der Familie erwähnt. 

Liudolf heiratete eine vornehme Fränkin namens Oda, deren Vater ebenfalls Billung hieß und als princeps Billung ein Verwandter des anderen Billung war. Eine Tochter Liudolfs und Odas, Liutgard, wurde Gemahlin des Urenkels Karls, König Ludwig der Jüngere. Sie besorgte ihrem Bruder Brun die Erlaubnis an der Normannenschlacht teilzunehmen, weil er sich Ruhm und Ehre auf dem Felde erhoffte. Im Februar 880 fiel er mit vielen anderen tapferen Männern bei Ebstorf. Unwissentlich kämpften dort die Nachfahren des Widukind und seiner Schwester Imhild gegeneinander und brachten einander den Tod. Brun fiel zusammen mit drei Bardos. Auch Liuthar von Stade, der über seinen Vater Abbio und Großvater Wicbert ein Urenkel des Widukind war, kam nicht mehr zurück. Seine Frau Enda, die fünf Jahre zuvor Mutter Liuthars II geworden war, starb im Kindbette und erlebte den Tod ihres Gatten nicht. Sie war ebenfalls eine Tochter des Grafen Liudolf und die Schwester Ottos des Erlauchten, des Liudolfs Nachfolger, gewesen. Otto wurde anno 876 der Vater Heinrichs. Somit war der Erlauchte Tammos Großvater und Enda seine Großtante. Liuthar II von Stade und sein Vater Heinrich standen sich als Cousins sehr nahe. Liuthar war mit 54 Jahren zu alt für den neuen Feldzug Heinrichs und erhielt die Erlaubnis zuhause zu bleiben. Seine Gemahlin Suuanhild, eine Tochter des Hamaländer Grafen Everhard, sollte zudem bald niederkommen.

Tammos Mutter Hatheburg war nicht viel Zeit mit ihrem Sohn vergönnt, jedoch sie erzählte ihm seine Familiengeschichte. Ihre Mutter Wentilburg entstammte Rudrat, einem Bruder des Billunc II und des Bennid. Deren Vater Amelung bezeugte 811 zusammen mit seinem jüngeren Bruder Wichmann den Frieden an der Eider, den Karl mit den Dänen schloss. Sie mussten ihre Heimat auf Druck des Warnechin von Engern verlassen. Ihre Leitnamen gaben sie an die nächste Generation weiter. Bennids zweiter Sohn Amelung II heiratete Haduwich, die Tochter Idas der Jüngeren. Haduwich war Enkelin der Heiligen Ida von Herzfeld. So wie ihre Ahnen aus der Linie der Karolingerin Tetta von Soissons und Addelina, wurde auch Haduwich  nach dem Tode ihres Mannes Äbtissin in Herford. Auf die Immedingerin Mathilde, Nachfahrin Immeds I, Sohn von Abbio und Hilde (Freund und Tochter von Widukind) folgte seine Mutter Hatheburg als Äbtissin, welche die junge Mathilde, die sie als Gattin Heinrichs ablösen sollte, in tugendhaftem Benehmen einer edlen Jungfrau unterrichtete. Bennids ältester Sohn Wichmann starb ebenfalls 88o in der Normannenschlacht bei Ebstorf. Rudrat blieb zu Hause, bestellte sein Land und gab seine beiden Töchter Hildegard und Wentilburg dem Grafen Thietmar von Ostfalen und dem reichen Erwin von Merseburg zu Ehefrauen.  Billunc wurde Vater des Billunc IV und des Bernhard von Borghorst, der als Legat und princeps militiae Tammos Vater Heinrich diente. Bernhards Bruder Billunc zeugte mit zwei Ehefrauen den im Jahre des Herrn anno 900 geborenen Wichmann und dessen Brüder Herrmann und Amelung. Letzterer wurde Bischof von Verden. Tammo erfuhr von seiner Mutter, dass sein Vater das Erbe Merseburgs nur zu einem kleinen Teil an das Kloster Herford abgetreten hatte, gerade so viel, um ihr den Platz als Äbtissin zu sichern. Den überwiegenden Rest hatte er behalten.  So auch das Erbe ihrer Großtante Hildburg und ihres Großonkels, des Priesters Folchart. Hildburg war die Ehefrau des Grafen Uffo gewesen. Sie und Folchart stifteten 896 das Kloster Möllenbeck als Kanonissenstift für unverheiratete adlige Jungfrauen. Sie ließen sich dies von Kaiser Arnulf von Kärnten bestätigen und setzten ihre Nichte, Hatheburgs Mutter Wentilburg, als erste Äbtissin dort ein. Nach dem Tod ihres ersten Gemahls wurde Hatheburg  Nonne in Möllenbeck, von wo sie sein Vater 906 holte und heiratete. 

Es wäre nun eigentlich an Tammo gewesen, das Erbe des Großvaters Erwin und der Mutter Hatheburg zu übernehmen. Er grämte sich oft darüber, wagte aber nicht seinen Vater darauf anzusprechen. Heinrich wusste um die Art der Gespräche, die Hatheburg mit ihrem Sohn führte. Er  konnte die Ländereien nicht herausgeben, sie waren zu wichtig für sein Königtum. Jedoch, keiner seiner Söhne sollte nach seinem Tode und nach der Thronbesteigung Ottos leer ausgehen. Die Ostmark und das Kommando als Heerführer und Markgraf sollte Tammo erhalten. Es waren ihm auch eine beträchtliche Summe Goldes und einige von ihm abhängige Bauernstellen zugedacht. Heinrich hatte eigentlich wenig an seinem Sohn auszusetzen gehabt. Tammo konnte sehr gut kämpfen. Jedoch er neigte auch zu unbedachten Ausbrüchen und Wut. Zudem vermisste Heinrich Tammos Hinwendung zu Frauen. Sein Erstgeborener umgab sich gern mit jungen Männern, lachte, trank und übte sich in Kampfritualen. Anzeichen eine Gemahlin zu wählen, zeigte er nicht. Ob sein Sohn Männer bevorzugte? Heinrich gab sich oft diesem Gedanken hin. Tammo ahnte, was sein Vater nicht aussprach, diesen aber sehr beschäftigte. Ja, er machte sich nichts aus Frauen. Immer wenn ihn sein Weg vom Hof weg führte, suchte er die Gesellschaft junger Männer. Bei ihnen fühlte er sich wohl und auch seine fleischliche Lust ließ sich mit einem Mann leicht befriedigen. Tammo bewahrte sein Geheimnis im Herzen. Er freute sich auf das Kommando in der Ostmark, welches er übernehmen würde, wenn Siegfried, der Sohn Thietmars das Amt des Legaten aus Altersgründen nicht mehr würde ausüben können. Auf dem Feldzug, der nun anstand, bekam er Gelegenheit Kraft und Stärke zu beweisen. 

Dankbar lächelnd hatte er sich damals vor neun Jahren von seinem Vater verabschiedet und war in die Nacht hinausgetreten. Er stand im Eingang zur Königspfalz, blickte fröstelnd in den kalten Abendhimmel, der in Grautönen schimmerte und den ersten Schneefall vorahnen ließ. Es war Jahreswechsel 928 zu 929. Heinrich hatte den Abmarschbefehl noch nicht gegeben. Die Brannaburg der Heveller war durch einen breiten Wassergraben gesichert. Er konnte vom Heer nur im Winter überwunden werden, wenn das Eis tragfähig genug war. Es hatte in den letzten Nächten bereits stark gefroren. Tammo schüttelte sich und zog den warmen Waffenrock näher an seinen Körper heran. Sodann tat er, was ihm der Vater aufgetragen hatte und suchte seinen Bruder Otto.  Tammo konnte ein fast schmiedegleiches Schwert wie das seine auf des Vaters Truhe liegen sehen und ahnte, dass auch der junge Otto ein besonderes Geschenk für seinen ersten Feldzug erhalten würde. Otto war ein Heißsporn, stets zu Dummheiten aufgelegt und er wurde nach Tammos Geschmack von Heinrich viel zu sehr verzogen. Der Vater setzte seinem jüngeren Sohn so gut wie keine Grenzen. Otto griff den Mägden frech unter die Röcke, betrank sich mit Freunden und zeigte kaum Lust am Kriegshandwerk. Das Lesen und Schreiben bereitete ihm ebenso wenig Freude, zum Leidwesen ihres geplagten Lehrers, Heriger, des Erzbischofs von Mainz.  Der schickte seine besten Mönche zur Unterweisung der königlichen Söhne in Latein und Gebet, leider mit unterschiedlichem Erfolg. Otto lernte so gut wie gar nicht, er spielte mit den armen Mönchen lieber Schabernacke. Tammo hatte als Knabe allerdings auch nicht viel Lust gehabt, sich der schwierigen lateinischen Sprache hinzugeben. Nur der kleine Heinrich mit seinen zehn Jahren musste gehorchen und in den Schulstunden aufpassen. Mathilde hatte vor vier Jahren einen dritten Sohn, den kleinen Brun zur Welt gebracht. Das Bübchen erwies sich bereits in seinem zarten Alter als äußerst pfiffig und Tammo ahnte, dass er seinen jüngsten Bruder wohl bald nicht mehr sehen würde. Brun sollte Geistlicher werden und wird im Sommer nächsten Jahres als Klosterschüler in die Obhut eines Bischofs kommen. Heinrich hatte die Domschule zu Utrecht für den kleinen Prinzen ausgewählt. Tammos Gedanken waren abgeschweift. 

Otto, wo war jetzt Otto? , fragte er sich und atmete tief die frische Dezemberluft ein. Zielstrebig wandte er sich nach rechts und schritt auf eine Hütte zu, aus der lauter Gesang zu hören war. Mit einer forschen Armbewegung stieß er die Tür auf. Stickige, nach Schweiß, Wein und Erbrochenem stinkende Luft empfing ihn und löste spontan Übelkeit aus. Rauch stieg in der Herdecke auf, konnte aber nicht vollständig aus der schmalen Dachöffnung abziehen und fügte dem Gestank noch den Geruch von verbranntem Fleisch und anderem Essen hinzu. Tammo kniff die Augen zusammen, weil ihn der beißende Rauch störte. Er sah sich um und entdeckte den Bruder unter den Männern. Otto saß auf einer Bank in einer Nische, eine Küchenmagd auf den Knien. Er hatte seine Hände grapschend um die Hüfte des Mädchens gelegt, versuchte sie an sich zu ziehen, so dass seine Lippen ihren Mund küssen konnten, doch sie wehrte ab und schien seine Annäherungsversuche wohl durchdacht zu ihrem Vorteil zu nutzen. Sein Hemd war von rotem Wein besudelt, hing hässlich aus dem Rock heraus. Ottos Haare klebten wild und wirr am Kopf. Seine Augen blickten glasig, er hatte wieder viel zu viel Wein getrunken. „Vater wünscht dich zu sehen!“ Tammo stand vor dem Jüngling und sprach seine Worte ruhig und ohne Emotionen aus. Der Vater duldete keinen Widerspruch und wartete zudem nicht gern, das hatte auch Otto inzwischen gelernt. Er stieß laut auf. „Ach, wie? Sag ihm, ich hab grad keine Zeit!“, lallte der Sechzehnjährige, dessen knabenhaftes Gesicht noch kein einziges Barthaar zierte. Er gab seiner Stimme einen bewusst gelangweilten Ton. Niemand sollte glauben, dass er sich womöglich vor Heinrich fürchtete.

„Bitte, tu, was du willst. Ich habe gerade ein feines Geschenk von ihm erhalten.“ Tammo grinste und zeigte mit der Hand auf die herrliche Waffe an seinem Rock. „Hat er noch eins für mich?“, fragte Otto, dessen Augen sich nun doch interessiert Bruder und Schwert zuwandten. Tammos Augen brannten immer noch von der schlechten Luft. Er streckte den Arm aus und zog das junge Mädchen mit einem Ruck an der Schulter von Ottos Schoß. Sie ließ es widerstandslos geschehen. „Geh, hole mir einen Becher Wein“, befahl er ihr und schob sie zum Tresen. „Eile zu ihm, lass dich überraschen!“ Tammo schmunzelte. Sein junger Bruder erhob sich, musste sich aber am Tisch festhalten. Tammo blickte einen der jungen Männer, die Otto dienten, forsch an. „Hilf deinem Herrn und künftigen König von Sachsen. Wer wie ein Mann trinken kann und Weiber haben will, muss auch stehen können wie ein Mann.“ Danach nahm er den Becher, den ihm die Magd reichte und leerte ihn in einem Zug. „Noch einmal dasselbe, Mädchen! Bring uns ein paar Flaschen her und schenke allen ein. Wir werden bald in den Kampf ziehen. Heute wollen wir noch einmal feiern.“ 

Tammos Worte lösten abrupt Beifall unter den Männern aus. Einige standen auf und setzten sich zu ihm, zeigten ihre aufrechte Bewunderung für das Schwert. Dessen neuer Eigentümer ließ sich in die gleichgesinnte und geeinte Gesellschaft fallen, sang und trank den gesamten Abend. Irgendwann stieß einer der Unterheerführer die Tür zum Wirtshaus auf und beendete das Gelage. Tammo fand den Weg in seine Holzhütte, die er sich mit sechs anderen teilte, ohne fremde Unterstützung. Er konnte Wein vertragen. Nachdem er seinem besten Freund und Waffengefährten Bernhard auf dessen Lager geholfen hatte, fiel er angekleidet und unter Waffen auf sein eigenes. Einen Moment später war nur noch lautes Schnarchen aus der Kemenate zu hören. Der junge Wachmann, der um drei Uhr nachts an der Hütte vorbei schritt, konnte zufrieden lächeln.

Auf Heinrichs Männer wartete ein langer und harter Winterfeldzug. Die eisige Kälte, Schnee und Sturm werden ihnen stark zusetzen. Trotz hervorragender Heerführer, die geschickt ihr Kriegshandwerk beherrschten, barg jede Kampfhandlung unvorhersehbare Gefahren. Vor allem, weil sie in das fremde Gebiet der Slawen einmarschierten. Wie leicht konnte man in einen Hinterhalt geraten oder in einem Sumpf stecken bleiben! Die einheimischen Slawen kannten das Gelände. Für Heinrichs Truppen war alles unbekannt. Und sie mussten sich auf Gegenwehr gefasst machen. Die Barbaren werden sich nicht kampflos ergeben. Manch einer der Sachsenkrieger könnte von dem Feldzug vielleicht nie wieder zurückkehren.